BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Entzweit: Zuhören»
von Lisa Blausonne
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Sie beugt sich über ihr Fahrrad und schließt es mit einer bunten Kette an die Laterne, als ich an ihr vorbeigehe und meine Wohnungsschlüssel aus der Jacke angle. Ich bleibe stehen: «Hi Charlotte, haben wir den gleichen Tages-Rhythmus?» «Scheint so», sagt sie, grinst breit und streicht sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Wir treffen uns regelmäßig zufällig vor der Haustür, manchmal zu ungewöhnlichen Tages- und Nachtzeiten. Sie wohnt über mir. Während wir gemeinsam die Treppe hochgehen, tauschen wir ein paar flüchtig dahergesagte Sätze aus. Ansonsten kennen wir uns kaum. «Na, wo kommst denn du gerade her?», frage ich sie. - «Vom Tanztraining. Wir haben nächste Woche Aufführung in der alten Zeche. Is` wahnsinnig aufregend.» - «Mh.» - «Den ganzen Tag haben wir in der warmen Halle trainiert. Jetzt bin ich ganz geschafft. Du, ich werde heute nix mehr machen. Toll, ja? Nur mal so für mich sein, den ganzen Abend. Das hatte ich schon Monate nicht mehr. Da freue ich mich drauf. Und du?» - «Ich werd` auf dem Balkon sitzen und lesen.» Charlotte ist Tänzerin, quirlig, dürr, modisch gekleidet in Klamotten, bei deren Anblick ich beiläufig feststelle, dass ich keine Ahnung habe, wo man solche Sachen kauften kann.

Ich gehe in meine Wohnung, lasse meine Tasche achtlos fallen und öffne die Balkontür. Ich atme warmen Sommerwind, der meine Haut umschmeichelt. Noch ist es hell genug, um draußen ohne Licht lesen zu können. Ich schenke mir ein Glas Rotwein ein, setze mich bequem auf die Holzbank und schlage das Buch auf, welches ich endlich zu Ende lesen will. Charlotte hat über mir das Fenster geöffnet; es muss wahnsinnig warm sein unter dem Dach. Ich nehme Geschirrgeklapper wahr und nach ein paar Minuten die elektronischen Töne, die ihr Telefon macht, wenn sie wählt: piep-diepiep-piep. Jede gewählte Zahl hat ihr eigenes Geräusch. «Hiiiiiii Tim, hier ist Charlotte. Wie geht es dir?», schallt es nach draußen. Nach ein paar Sekunden: «Oooch, schade, ich dachte, wir könnten gleich zusammen ins ‹Rauschen› gehen. Aber dann ein andermal, ja? Tschüüüß.» Sogleich startet sie einen neuen Versuch: es macht über mir wieder piep-diedie-piepiepiep, Sekunden atemlose Stille, und dann höre ich Charlottes helles «Huhuuu. Ich bin es. Was machst du heute?» Dann «Ach so, ja, das ist ja wahnsinnig aufregend. Da mußt du mir dann später von erzählen. - Ich, ja, ich wollte gleich mal im ‹Rauschen› aufschlagen und dachte, du hättest ... - Ja, ja, klar. Tschüss dann».

Ich lese die Worte in meinem Buch, höre Charlotte aber dennoch zu und verstehe so nicht mehr, was ich gelesen habe. Also lese ich den Absatz noch mal von vorne. Aber ich kann mich nicht konzentrieren, da ich so unerwartet in das Leben einer anderen Person hineingezogen werde. Ich stehe auf, schaue über die Dächer der Stadt, sehe die Vorgärten der Nachbarn und die Baumwipfel des Parks nebenan.

Über mir höre ich erneut das piepdie-piepdie-piepdie. Und ich stelle mir kurz vor, wie Charlotte auf ihrem Bett liegt - halbnackt, weil es so warm ist - und gespannt darauf wartet, dass der andere an das Telefon geht, während sie ihre Fingernägel betrachtet. Und nicht ahnt, dass ich an ihrem Leben teilhabe. Ich lege mein Buch weg, schlurfe in die Küche, esse im Stehen einen Quark und betrachte meinen Anrufbeantworter. Ich erledige meinen Abwasch und schmeiße meine Wäsche in die Maschine. Dann gehe ich wieder hinaus.

Mittlerweile blinken ein paar Sterne am Himmel, es ist schön auf dem Balkon. Ein Refugium, das heute abend durch Charlottes schrille Stimme entweiht wird. Ich zünde die Kerzen auf der Balkonbrüstung an und nehme wieder mein Buch in die Hand. Der Telefon-Marathon hat offenkundig noch kein Ende: «Woooow. Mensch, kannst du mir daaas nicht beim Bier erzählen? - So, ins Kino? Naja, dann viel Spaaaaß.»

Nein, ich versuche nicht hinzuhören. Es geht mich nichts an. Ich schaue auf meine Uhr. Ich tue so, als ob ich lesen würde. Piepdiepiep-piep-piep. «Franziska? Hey, es ist fürchterlich in dieser Stadt. Es gibt einfach niemanden, der mir zuhört. Und dabei will ich nur für ein kleines Stündchen in die City. Keiner hat Zeit. Ich bin ganz verzweifelt. Und wie läuft es bei dir?»

Warum höre ich nur hin? Ich versuche mich zu entspannen und noch einmal auf das Buch zu konzentrieren. Es funktioniert nicht. Ich lege das Buch auf die Balkonbrüstung. Sollte ich ein Bad nehmen? Und dann auf dem Balkon schlafen? Es ist so warm in der Wohnung. Aber wer weiß, wie lange Madame noch telefonieren wird. Sie hat wieder eine Nummer gewählt. Ich frage mich, nach welchem System sie ihre Leute anruft: Beliebtheit, Wahrscheinlichkeit des Treffers?

Ich kann mich ihr nicht entziehen. Ich lausche mich in das Leben einer anderen Person hinein. Und kann meine voyeuristischen Ohren nicht schließen. Peinlich berührt probiere ich es noch einmal mit meinem Buch.

Piep-piep-piep ertönt es. Ich denke über den Weltling über mir nach, wie er versucht, der Einsamkeit zu entkommen. Und doch vor zwei Stunden noch den Wunsch äußerte, den ganzen Abend ganz für sich sein zu wollen. Und dann denke ich, dass ich auch schon lange nicht mehr im ‹Rauschen› war. Ich stehe auf, lehne mich etwas über die Balkonbrüstung hinaus und rufe nach oben: «Hey, Charlotte, hast du eigentlich Lust, mit mir noch ins ‹Rauschen› zu gehen?»



Erstellt: 10. Februar 2004 - letzte Überarbeitung: 10. Februar 2004
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