BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Entzweit: Abschied»
von Lisa Blausonne
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Wir sitzen auf einer Bank am Bahnsteig 5, Abschnitt F, dort, wo sich sonst keiner aufhält. Wir trinken Champagner aus ‹Sunflower›-Plastikbechern. Während ich auf die bunte Sonne gucke, die den Plastikbecher ziert, färbt sich der Himmel über uns blau-grün-gelb. Nachsommer im Ruhrgebiet. Mir stehen die Tränen in den Augen, und ich begreife, was es heißt, wenn man sagt, dass Tränen stehen können. Meine Tränen wollen nicht fließen. Denn ich will vor dir nicht weinen.

Es ist vorbei. Ich begreife es langsam; doch der Gedanke sickert nur sehr stockend in mein Bewusstsein. Viel lieber würde ich daran denken, dass die Zeit der harten Arbeit vorbei ist, dass ich mein Projekt heute wirklich abschließen konnte, für das ich die letzten Monate so stark eingebunden war, ja, und viel lieber würde ich denken, daß ich jetzt endlich, endlich Zeit habe - für uns, für unsere Liebe, für einen gemeinsamen Urlaub, den ich mir so gewünscht habe. Aber du beendest unsere Beziehung - jetzt, hier, unter diesem blau-grün-gelben Himmel, mit einem ‹Sunflower›-Plastikbecher in der Hand. Du schaust auf den Boden und ziehst mit dem Schirm Linien in den Staub. Und sagst, dass du ‹wahrhaftig› sein wolltest.

Ich denke - nichts. Denke lange nichts. Und dann denke ich, wie nahe Glück und Leid beieinander liegen. Und dann denke ich: nichts. Lange nichts. Ich trinke Champagner aus dem ‹Sunflower›-Plastikbecher. Wir feiern auf unsere Weise das Ende von zwei Projekten.

Ich lächle und sage: «Es passt irgendwie zu uns». Du schaust wieder auf den Boden und reagierst nicht. Ich sage «Hey, hast du gerade mit mir Schluss gemacht? Es hat noch nie jemand mit mir Schluss gemacht. Die ganzen 30 Jahre nicht.» Diese seltsame Formulierung, die mich an meine Abiturzeit erinnert, hilft mir, der Situation die Härte zu nehmen. Wieder ist eine Geschichte vorbei, kein Mann fürs Leben, kein Mann für Nähe und Vertrautheit, noch nicht einmal ein Mann für einen Sommer. Ich denke kurz an die Momente, die wir hatten, an den Augenblick am Rhein, an dem alles anfing. Das war der Beginn des Sommers, der jetzt vorbei ist.

Dann kommt mein Zug, ich steige ein, gehe zu meinem Platz und schaue hinaus. Denn Du stehst draußen. Du winkst und wirfst mir Kusshände zu, aber dein Lächeln ist müde. Dann sehe ich Dich nicht mehr. Der Zug fährt. Und endlich darf ich weinen. Der Schaffner kommt zu mir und sagt: «Es gibt heute im Bistro ‹Rinderroulade Hausfrauen Art›.»

Draußen, vor dem Fenster wird es immer dunkler. Ich fahre wieder einmal nach Hause, um alleine zu sein - und aufzuräumen in meinem Leben. Ich weine.



Erstellt: 22. September 2005 - letzte Überarbeitung: 22. September 2005
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