BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Betreff Betreff: Ein neues literarisches Genre»
von Sandra Dick & Henriette Orheim
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Stellen Sie sich vor, sie wendeten sich an jemand – es muß nicht unbedingt ihr passagerer Lebensabschnittspartner sein – mit der strikten Absicht, ihm etwas sagen zu wollen, mit ihm zu sprechen also. Kündigen Sie dann das an, was Sie ihm gleich sagen werden? Fassen Sie in einer Art Überschrift kurz und knapp zusammen, wie Ihre Botschaft lauten wird, die sie gleich kundgeben werden? Nein, das tun Sie nicht. Je nach sozialem Raum, in dem Sie sich gerade bewegen, sagen Sie höchstens so etwas wie «Na gut, also ich sach jetzt mal…» oder «Also, ich sage Ihnen jetzt mal was!» Aber Sie geben kein inhaltliches Versprechen über das ab, was Sie da abliefern werden. Alles klar?

Nun stellen Sie sich weiterhin vor, Sie schickten an irgendjemanden eine SMS. Wie, das geht gar nicht? Sie haben Recht. Einen ‹Short Message Service› kann man gar nicht versenden, nur die ‹Short Message› selbst. Aber lassen wir diese PISA-Betrachtungen mal beiseite. Sie stellen sich also vor, Sie wollten über Ihr Mobilphon eine Kurzmitteilung versenden; wählen Sie dann eine Überschrift für Ihre Mitteilung, in der Sie das Kommende ankündigen? Nein, das tun Sie nicht. Statt dessen beginnen Sie in Ihrer Kurzmitteilung sogleich mit dem Klartext: «Ich war eben bei LIDL und geh jetzt bei ALDI!» Oder: «Zarter Rosenstrauch in Frühlingssonne, wann schenkst Du Deiner Rosenküsse Wonne?» Alles klar?

Jetzt stellen Sie sich aber mal vor, Sie schrieben einen privaten Brief an jemanden, keinen ‹Behördenbrief› mit dem üblichen ‹Aktenzeichen› also. Wie? Das können Sie sich nicht vorstellen? Den letzten richtigen, physischen Landpost-Brief haben Sie vor vielen Jahren geschrieben und Sie können sich gar nicht mehr daran erinnern? Na gut, dann lassen wir das.

Dann stellen Sie sich jetzt eben mal vor, sie schrieben eine E-Mail. Merken Sie was? Ja, ja, jetzt passiert was, jetzt taucht aus heiterem Gedankenhimmel eine Schwierigkeit auf: Es gibt eine Betreffzeile! Die steht ganz oben, schwebt über allem, was folgen wird, und will ausgefüllt sein! Aber, was heißt schon ausgefüllt! In dieser Zeile muß es intelligent, lustig, erhaben und literarisch zugehen. Und schon haben wir ein Problem. Denn das ist nicht so einfach, das mit der Betreffzeile. Hier wartet ein neues literarisches Genre auf uns, das mit Bedacht erarbeitet werden muß.

Ein «E-M@il Für Dich!» ist ja noch einigermaßen kommod und leicht herzustellen. Außerdem wirkt es in weiten Kreisen so unbefangen lustig mit seinem knuddeligen ‹@›. Auch ein «Plauderei» kommt als Betreff nett daher. Aber «das wort zum montag am montag? hey cool, wirklich am montag? ja man», tja, das ist eine Überschrift, die in einer anderen Liga spielt, in der Bundesliga der E-Mail–Überschriften. Die obige übrigens ist ein hübsches Exempel einer der schreibwütigsten Weiber dieses Landes, Mademoiselle Sibylle Berg, aus deren Tastatur geradezu ganze Überschriftsromane entstehen. Empfängt man all montäglich ihre Rundschreiben an die interessierte Berg-Leserschaft, möchte man fast meinen, sie nimmt die Bürde der elektronischen Kommunikation mit dem Leser einzig und allein aus einem Grunde auf sich: Der Freude an der schönen Überschrift.

Doch des einen Freud ist des anderen Leid. Denn nicht in jedem steckt eine kleine ‹femme de lettre›, der die gelungene Überschrift so mir nichts dir nichts aus der Feder fließt. Oft hat man den Text – ebenso eloquent wie informativ – schon längst verfaßt, und verbringt plötzlich endlose Zeiten, sich in den Haaren raufend und nach einer passenden Überschrift suchend. Denn eins dürfte heute allen E-Mail-Schreibern und -Schreiberinnen klar sein: Der Text in der Betreffzeile wird zur Visitenkarte der Verfasserin. Zeig mir eine Deiner Überschriften, und ich sag Dir wer Du bist. Eine echte Herausforderung – aber eben auch ein Qualenquell.

Stellen wir uns eine unbefangene junge Frau vor, die sich in einen ebenfalls jungen wie auch sehr attraktiven Mann verliebt, und fürderhin befangen ist. Selbstverständlich ahnt der Mann noch nicht, daß er ihr Objekt der Begierde ist. Nach einem gemeinsamen Picknick mit Freunden im Park nimmt sie sich nun ein Herz und fragt: «Öhm, gibst Du mir mal eben Deine E-Mail–Adresse?» Und bestückt mit einem ‹web› oder ‹hotmail› oder ‹gmx› Zauberzugang zum Liebesglück begibt sie sich nach Hause. Sie können sich leicht vorstellen, lieber Leser und liebe Leserin, daß die junge Dame sich nicht bereits am selbigen Abend ihr Laptop auf den Schoß haut und einen heißen Liebesbrief an den Begehrten verfassen wird. Auch hier gilt, daß mindesten zwei Tage gewartet werden muß. Zwei Tage, in denen unsere Entflammte aber vor allem von einem Gedanken beherrscht wird: «Was schreib` ich, ach, was schreib` ich nur in die Betreffzeile?»

Natürlich soll die wohl gewählte Überschrift schon auf eine gewisse Weise ihre neuen und starken Gefühle andeuten. Die Überschrift darf aber eben auch nicht zuviel davon verraten. Die Entflammte wünscht sich, daß ‹er› schon beim Herunterladen seiner E-Mails sich beim Anblick gerade ihrer Überschrift unsterblich in sie verlieben wird. Das ist das klar eingekreiste Ziel! Aber was da alles beachtet werden muß! Am liebsten würde sie die Betreffzeile einfach leer lassen. Doch sie weiß, daß dies völlig unmöglich ist, daß dies ein Riesen-Fauxpas ist! Die leere Betreff Zeile zeugt nämlich von literarischer, ästhetischer, geistiger und erotischer Einfallslosigkeit, von Desinteresse am Empfänger der E-Mail-Botschaft und von einer ‹Huschi–Huschi-Persönlichkeit›. Das kann man zur Not mal beim nie erhörten besten Freund oder bei distanten Familienangehörigen machen, aber auf gar keinen Fall, wenn man sich als verliebte, einfallsreiche, interessierte, wache, engagierte, kurz, als tolle Frau präsentieren will!

Tja, das weiß natürlich auch unsere verliebte junge Dame. Deswegen die Qualen bei der Suche nach der einen Überschrift, die ihn überzeugen wird! Nach zwei Tagen aber ist endlich der Moment gekommen. Ein zarter Schweißfilm bedeckt ihre verliebte Stirn. Sie nimmt ihr Laptop auf den Schoß, klappt es langsam auf. Sie weiß, daß der Apfel im Deckel ihres Laptop ruhig und sanft schimmert. Aber das hilft ihr jetzt nicht weiter. Sie seufzt. Sie schmeißt den ‹Smart Surfer› an, sucht mit seiner Hilfe den günstigsten Tarif, loggt sich in ihren ‹web.de› Account ein und bestätigt den Button ‹E-Mail verfassen›. Das Fenster öffnet sich – und dort ist sie: Die leere Betreffzeile. Sie fühlt ganz sachte, wie aus ihrem tiefsten Inneren so etwas wie Panik aufsteigt, doch sie faßt sich ein Herz, sie hat sich im Griff, und sie tippt…



Erstellt: 11. Mai 2003 – letzte Überarbeitung: 11. Mai 2003
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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