BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Zugehörig: Durchflutet»
von Lisa Blausonne
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Marie geht barfuß durch den Schnee, der die mickrigen Grasbüschel des Weges bedeckt. Hier und dort recken sich kleine grüne Halme der Restsonne des Tages entgegen. Es ist so kalt, daß Maries Atem als kleine, helle Wolke vor ihrem Gesicht sichtbar wird. David sitzt auf der Holzterrasse und blickt ihr nach, wie sie zügig durch den Garten auf den Pool zugeht. Sie ist nackt und hält ein helles, langes Badelaken wie eine Fahne in der Hand. Der Pool und seine hellblauen Kacheln werden durch das gleißende Licht der Strahler unter Wasser zum Leuchten gebracht. Aus der Entfernung erscheint das kleine, runde Schwimmbecken wie eine überlebensgroße, lebendige Qualle, umgeben von vor Kälte erstarrter Erde.

Marie springt mit einem Schwung vom Beckenrand hinein, ihr weißer Körper taucht in einem langen Zug unter. Sie liebt diesen Moment, in dem sie sich ins Licht stürzt, in dem sie sich der augenblicklichen Stille unter Wasser gewahr wird und mit wenigen, kräftigen Bewegungen durch das Wasser fließt. Sie taucht auf und dreht sich. Dann betrachtet sie - auf dem Rücken treibend - den dunkler werdenden Himmel. Das Wasser ist kühl, aber wärmer als seine Umgebung. Nach einer Weile zieht sie sich ruckartig aus dem Pool heraus und ergreift das lange Laken, das sie um sich schlingt. Pfeifend kommt sie zurück auf die Terrasse, auf der David sitzt und liest. Er lacht sie an, legt sein Buch beiseite und reicht ihr ein Handtuch und den wärmenden Bademantel. Sie rubbelt sich die Haare trocken. Ihre Wangen sind errötet und auf den Unterarmen entdeckt er eine leichte Gänsehaut.

«Warum nicht auch im Winter draußen schwimmen, liebste Lebenskünstlerin?!» «Künstlerin?» Sie runzelt die Stirn. «Nein, ich bin nur Bildhauerin», entgegnet sie lächelnd. «Also keine Künstlerin?» «Die Kunst entwickelt sich aus sich heraus. Vielleicht bin ich so was wie eine Geburtshelferin.» «Wie meinst du das?» «Na ja», sagt sie ernster und setzt sich zu ihm an den Holztisch. Sie schaut David lange an und erklärt dann mit leiser Stimme: «Ich betrachte den Stein, den ich bearbeiten will. Meist sind es große, grobe Klötze aus hellem Stein, du kennst sie ja, sie stehen drüben in der Werkstatt», sie macht eine Kopfbewegung in die Richtung ihres Ateliers. «Also, ich betrachte und betaste den Stein von allen Seiten. Dann beginne ich damit, ihn zu bearbeiten, behutsam klopfe ich die ersten Schichten ab. Um mich herum fliegen Staub und kleine Steinsplitter, der Boden bedeckt sich mit Schmutz, und der Steinklotz nimmt langsam eine Gestalt an. Und plötzlich trete ich zurück und sehe, was sich im Stein verbirgt. Ich mache mir vorher kein Bild davon, was es werden soll, welche Statue ich schaffen möchte. Ich lege lediglich frei, was sich von je her in dem Stein verborgen hatte. Ich befreie das Kunstwerk aus seinem groben Mantel. Das Werk schafft sich selbst durch meine Hände. Ich betrachte die Skulptur anschließend und staune, was ich befreit habe. Für mich ist dies das Wesen der Kunst - daß sie sich aus sich selbst heraus entfaltet, scheinbar losgelöst vom Erschaffer.»

David schaut sie an und nickt langsam. «Ist dein Leben ein ebensolches Kunstwerk?» «Mh, ja. Meine Tage entfalten sich auch wie von selbst, sobald ich meine Energie erkannt habe. Ich staune über mein Leben und betrachte meine Handlungen gerne aus der Distanz. Gestern Abend, beim Zähneputzen zum Beispiel, da habe ich mir in die Augen geschaut, mein Blick glühte mich an, und ich habe mich angelächelt, mit dem Zahnpastaschaum im Mundwinkel. Wenn ich meine eigenen Augen betrachte und diese Energie sehe, die sich in mir verbirgt, wundere ich mich darüber, wer ich bin». «Ein schönes Bild», sagt er. Marie fährt fort: «Was sich im Menschen ausdrückt, ist sein Wesen, es schimmert durch ihn hindurch, wie durch einen unbearbeiteten Stein. Ich kann mein Wesen, meine innere Skulptur, erkennen - und dann werden, die ich bin, statt wie ein grober Klotz durch die Welt zu gehen.»

Nach einer Pause fügt sie hinzu: «Mein Leben erscheint meiner Umwelt unstet und nicht faßbar, wie verschiedene, voneinander getrennte Leben in verschiedenen Kontexten. Du weißt, daß mir das Freunde sogar vorwerfen. Ich habe mein Lebensgefühl geändert. Ich fühle mich nicht mehr entzweit. Ich fühle mich zugehörig, denn ich habe mehr Vertrauen in mein eigenes Wesen.» «Zugehörig, zu wem denn?» «Zu mir.» «Und ist da noch Platz für mich?» «Natürlich, mehr denn je», sagt sie und lächelt ihn an.



Erstellt: 20. September 2004 - letzte Überarbeitung: 20. September 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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