BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«‹Ein Beziehungs-Vergewisserungs-Kuß›»
von Helmut Hansen
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Am letzten Wochenende war ich auf einer Party in Berlin. Klar, das ist eigentlich nicht der Rede wert, und ich möchte hier auch nichts Grundsätzliches über die Kulturphysiognomie des derzeitigen Party-Geschehens sagen. Denn selbst in diesem Skepsis-Reservat sollten gelegentlich Texte daher kommen, die es mit einer großen Leichtigkeit vermeiden, das zu tun, was alle jüngeren und mittelalten Leser und Leserinnen nicht nur verschreckt, sondern anwidert: Den Zeigefinger zu heben. Gut, mit dieser kulturkritischen Bemerkung habe ich mir eigentlich schon das heute so begehrenswerte Leichtigkeits-Gütesiegel verscherzt, ich werde mir im folgenden aber dennoch große Mühe geben, es vielleicht doch noch einzuheimsen!

Wie gesagt, eine Party ist eine Party, es gibt einige Leute, die man kennt, schätzt oder liebt, es gibt etliche, die man nicht kennt, es gibt viel zu essen und zu trinken, man spricht mit diesem und jenem, man hält die Augen offen, und, wenn man Glück hat und immer noch von Albertine Devilders Geschichte «Für mich bitte nur ganz wenig!» schwärmt, sieht man auch was. Und tatsächlich, es gab viel zu sehen: Idiosynkratische Ankunfts- und Abgangszeiten, komplexe Beziehungskonstellationen, Annäherungen und Vermeidungen, kurz, spezifische Lebensgewohnheiten und lokale Spielregeln sozialer Strata. Ich möchte im folgenden unter dem Motto ‹Vita ipsa› über die Beobachtung berichten, die mir am besten gefallen hat.

Ich sollte jetzt endlich erwähnen, daß auf dieser Party einige sehr ‹interessante› Frauen waren. Leider kann ich hier jetzt nicht die Konnotationen des Wortes ‹interessante Frau› hinreichend erläutern, aber ich vermute, daß Leser (und Leserinnen) dieser kleinen Geschichte da eigene Vorstellungen entwickelt haben. Falls nicht, empfehle ich die Lektüre von Vicente G.s Geschichte über Natalia. Eine dieser ‹interessanten› Frauen also war mir schon eine ganze Weile aufgefallen, und dies nicht nur, weil sie zum Anlaß dieses Party-Besuches eine ganz und gar professionelle Trecking-Hose meines Lieblings-Trecking-Hosen-Herstellers trug.

Da es sehr warm an diesem Abend war und die großbürgerliche Wohnung, in dem die Veranstaltung nun ihren Lauf genommen hatte, einen kleinen, winzigen Balkon aufwies, gingen immer wieder ein oder zwei Gäste auf den Balkon, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Nun, viel Erfrischung bot sich hier nicht an, denn die samtene Luft, die von den bis zum Balkon herauf reichenden großen alten Platanen herein wehte, war warm und schwer und nicht wirklich erquickend. Aber der Himmel über den Bäumen schimmerte in den letzten Strahlen der Abendsonne und präsentierte feine, dünne, rosafarbene Cirrocumuli.

Tja, und nun sah ich mit einem Mal, daß die Trecking-Hosen-Trägerin alleine auf dem winzigen Balkon stand. Geistesgegenwärtig ging ich zu ihr und fragte sie schnell entschlossen, warum sie ausgerechnet eine Hose dieser Marke tragen würde. Ich wurde freundlich mit der Gegenfrage empfangen: «Willst Du die ganze Geschichte hören oder nur die Zusammenfassung?» Nun, diese Antwort fand ich sehr nett und schlagfertig, also sagte ich: «Die ganze Geschichte natürlich!»

Die Trecking-Hosen-Trägerin - klein, wuschelig, mit Brille und sehr nett - stand also auf dem winzigen Balkon und erzählte mir diese Hosenwahl-Geschichte, während ich in der schmalen Tür zum Balkon stand und versuchte, alle zugelassenen Zeichen intensiven Zuhörens zu zeigen. Plötzlich, mitten in die Erzählung hinein, schob sich in Höhe meiner rechten Schulter langsam und zielgerichtet ein Kopf mit einem gespitzten Mund an mir vorbei in Richtung der auf dem Balkon stehenden Erzählenden, bis er, der sich behutsam nähernde Mund, das entsprechende Äquivalent der Erzählenden erreichte und diese Handlungsepisode mit einem kleinen Rutsch-Kuß abschloß. Die Erzählung wurde dabei nur für den Bruchteil einer Sekunde unterbrochen.

Ich trat ein wenig zur Seite und schon huschte eine große, ebenfalls interessante Frau auf den Balkon, stellte sich hinter die Erzählende und umfing sie fest mit beiden Armen. Die Trecking-Hosen-Trägerin erzählte ungerührt ihre nette Geschichte weiter und die Frau, die sich zu uns gesellt hatte, hörte zu, hielt fest und sah mich an.

‹Ach, ein Beziehungs-Vergewisserungs-Kuß›, dachte ich ganz gerührt und spürte, wie ich mich nicht mehr auf die Hosen-Geschichte konzentrieren konnte. Ich stand zwar nach wie vor in der Tür zu diesem kleinen Balkon, und auf dem Balkon standen immer noch zwei eng aneinander geschmiegte Frauen. Meine Gedanken schweiften jedoch fort, mein Blick wandte sich nach innen, mehrere erfreuliche Déjàvus oder Erinnerungen tauchten auf - und plötzlich war ich ganz warm und voller Liebe.



Erstellt: 4. Juni 2005 - letzte Überarbeitung: 4. Juni 2005
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