BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bruchstellen: ‹Nach der Nachtschicht›»
von nele
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Die letzte Stunde vergeht nicht, soll nicht vergehen. Ich bin aus der Zeit gefallen. Mein Arme werden immer schwerer, sie vermögen kaum noch, sich selbst zu tragen. Meine Augenlider erzählen vom Schlaf und mein Kopf lebt in einer seltsam abgestumpften und abgetrennten Bewegungswelt. Es fällt schwer, hier noch klare Gedanken zu finden. Doch dann wird es laut, und die Halle berauscht sich an einem frischen Stimmennebel - er verkündet das Ende der Nachtschicht.

Zehn Minuten später sitze ich auf meinem Fahrrad, auf dem Weg zum Bahnhof. Meine Füße treten, kaum spürbar, wie von selbst. Vor mir erfindet sich der Horizont. Jedem hätte ich geglaubt, der mir in diesem Moment etwas über die Farbenpracht dieses eigenartigen Gebildes hätte weismachen wollen. Alles.

Ich gleite vom monotonen Rauschen der Maschinen in das unrhythmische Geräusch von Motoren, denn die breite Hauptstraße ist voll von lärmenden PKWs. Die meisten Insassen haben den Tag vor sich, sie kennen ihr Ziel. Und ich? Ich ertappe mich bei einem Aphorismus von Montaigne: «Kein Wind ist demjenigen günstig, der nicht weiß, wohin er segeln will.» Ja, wohin? Ich denke an die Menschen, die kein Ziel haben, die unzuverlässig und sprunghaft sind und so in ihrer Inkohärenz kohärent bleiben. Ist das ein Wunder? Nein. Ich denke an die gesellschaftlichen Hürden, die jemand überspringen muss, wenn er sein Leben einem bürgerlichen Kohärenzdenken nicht anpassen möchte, denke an all die Stempel und Rotstifte, die gleichgültig mitteilen: Passt nicht, diese Biographie passt nicht, dieser Lebensweg ist für den und den Beruf oder diese und jene Förderung falsch gewählt. Damit wird eine Reichhaltigkeit an Biographien verhindert. Innovation gibt's nur in der Wirtschaft, gibt es, wenn sich ein Lebensstil verkaufbar machen läßt.

Ich frage mich, wohin ich segeln will. Es fällt mir schwer, über mein Leben nachzudenken, über die vielen Umwege. Eigentlich bräuchte ich öfters mal eine Windstille, einen heißen Tee, ein Fernglas und einen netten Menschen zum Reden. Das wär's. Denn die Klarheit kommt beim Sprechen.

Die Lichter des Zuges machen sich in der noch düsteren Ferne bemerkbar. Zwei Minuten später schließe ich mein Fahrrad an, setze mich, streife Schal und Handschuhe ab und gieße mir die letzte Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein. Neben mir sitzt eine Schülerin, die irgendetwas auswendig zu lernen scheint. Sie schaut, nachdem sie konzentriert ein paar Minuten auf die beschriebenen Blätter ihres Hefters gesehen hat, leicht schräg zur Seite, angestrengt in Gedanken versunken. Ich kenne das.

Und wieder Montaigne: «Wir müssten danach fragen, wer das bessere, nicht wer das größere Wissen besitze.» In diesem Moment würde ich gerne wissen, wer dieses Quantitätsdenken in die Welt gebracht hat, und ob es in dieser Form schon immer existierte. Und warum wundern sich die Menschen dann noch darüber, dass kaum jemand ethische Fragen stellt, Fragen nach der Qualität des Zusammenlebens, Fragen der Ästhetik.

Zwischenstop. Der Zug hält. Ein paar Leute steigen aus, ein paar mehr ein. Vor der Tür steht ein Pärchen, sie umklammern sich, können sich nicht trennen. Ihn sah ich vorige Woche mit einem anderen Mädchen im Zug stehen. Eigenartig. Und einen Monat später dann das nächste? Ich kenne Menschen, die diese schnelllebige Welt der Beziehungen nicht mehr ertragen, sich keine Beziehung mehr vorstellen können, weil sie zu oft in diese Unbeständigkeit geraten sind. Eine Beziehung, die länger als ein Jahr hält? So etwas ist ja out, nicht wahr? Zu festgefahren, zu konservativ. Für lange, tiefe Beziehungen müsste fast eine neue Zeit erfunden werden. Aber die Menschen erfinden nichts mehr, die Zeit der großen Erfindungen scheint weit hinter uns zu liegen. Die Fakten haben uns eingeholt.

Da bin ich, es ist heller geworden und die Kälte wird sichtbar. Ich verlasse die müden Blicke meiner Mitpassanten und radle los, über die Kreuzung, vorbei an meinem Lieblingsbild: Ein Baustellentümpel in der Stadt, wo sich alles Mögliche an Leben angesiedelt hat, unter anderem auch zwei Schwäne. Sie lassen das Wasser unter sich hinweggleiten. Über der spiegelklaren Wasseroberfläche steigt ein leichter düsterer Schleier empor. Wie immer werde ich langsamer, atme tief die kalte Luft ein, meine Hände werden wärmer. Ich wähle den schmalen Weg entlang dem von Linden- und Ahornbäumen begleiteten Fluss.

Die Schwäne haben dieses Jahr keine Jungen gehabt. Es war sehr traurig. In der Zeit, in der sie hätten schlüpfen sollen, war - nichts. Die Eltern schwammen einsam auf dem Tümpel. Was war los? Als ich mich damals in die Nähe der vermeintlichen Brutheimat begab, glitt ein Schwan herbei, zögerte, hatte plötzlich ein totes Junges im Schnabel. Es hing da wie ein nasser Lappen. Er tauchte es unter - ein paar Mal und übergab das fast Ungeborene dem tiefen, stillen Grab. Dann schwamm er davon. Da stand der riesige Vorwurf: Menschen waren für die diesjährige Kinderlosigkeit der Schwäne verantwortlich. Ich näherte mich dem Ufer und entdeckte zwischen dem Schilf im Wasser etwas, das wie ein Ei aussah. Ich lief schnell nach Hause, mit Tränen in den Augen. Ich suchte meinen Hass und fand nur Trauer und Mitleid.

Zu Hause: Ich sitze in der Küche und trinke mit meinem Mitbewohner Kamillentee mit selbst gemachtem Honig. Ich drehe mir eine Zigarette und überlege, ob ich überhaupt schlafen kann. Als ich endlich im Bett liege höre ich Tori Amos' Little Earthquakes: ‹....doesn't take much to rip us into pieces...› Ich zweifle, schlafe ein und träume von Eltern, die ihren Kindern zeigen, wie sie Steine auf Enten und Schwäne werfen. Plötzlich verwandelt sich das Nest zur Erde, das Wasser wird zum All. Engel bewerfen die Erde mit Wölkchen, die sich abregnen und zu Tümpeln werden, auf denen viele Schwanenpaare dahingleiten.



Erstellt: 31. Oktober 2005 - letzte Überarbeitung: 31. Oktober 2005
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