BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bruchstellen: ‹Das erwachsene Kind›»
von nele
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Denn es ist alles gesagt,
alles vernommen,
alle Wälder durchjagt,
alle Höhen erklommen.


Sie stiftete kleine Ewigkeiten an, ihr zu vertrauen, während sie leichtfüßig zu den stillen Wassern ihrer Kindheit lief. Und die Ewigkeiten geduldeten sich und wuchsen. Auf 20 Jahre wuchsen sie an. Die Sekunden verbanden sich mit Bildern und wurden zu Stunden, die nach Beschreibungen suchten für längst Vergessenes.

Ihre Beine trugen sie über den mit Betonplatten ausgelegten Weg, der zu einem im Wald gelegenen Tümpel führte. Zu einem Tümpel und zur damaligen Grenze. Plötzlich wurde sie überholt von einem Kind, das höchstens sieben oder acht Jahre sein konnte. Es stand mit dem linken Bein auf einem alten roten DDR-Roller und schwang das rechte Beinchen, um vorwärts zu kommen. Es beachtete sie mit keinem Blick, was seltsam war, denn irgend woher wusste sie Geschichten über dieses Mädchen zu erzählen, das da in größter Anstrengung in die gleiche Richtung strebte wie sie. Es schien nicht interessiert an einer damals noch feststehenden, nahen Grenze mitten in einem Land, dessen Menschen die gleiche Sprache sprachen. Das zu erklären, überließ es den Erwachsenen, die eh immer alles besser wussten. Sie mochten die besseren Wisser sein, aber Kinder waren einfach die besseren Erfinder. Die Meinung des Mädchens schien fest zu stehen. Durch Tatsachen konnte man es jedenfalls nicht verwirren.

Dieses kleine Mädchen mit seinem knielangen braunen Wildlederrock, dem rot-weiß-karierten Hemdchen und den dunkelbraunen, breiten Halbschuhen trug immer einen wohlerzogenen, lang geflochtenen, feuerroten Zopf, der nun so gar nicht zu seinem Verhalten passte. Denn in der Schule trat es den Jungen aus der Klasse die Knie blutig und nachmittags versenkte es sich ganz unschuldig in Kinderbuchgeschichten, die es häufig nicht verstand und sich daher lieber aus dem, was es verstand, neue Geschichten erfand, in denen es selbst die Hauptrollen spielen durfte. So wurden aus den wenigen gelesenen Büchern ein paar kleine Heldinnen geboren, welche die Wirklichkeiten des kleinen Mädchens bevölkerten und ihm halfen, den Alltag in einer vorstellungsarmen Erwachsenenwelt zu meistern. Erwachsene verstanden das nicht. Sie neigten dazu, die erdachten Gefährtinnen durch ein paar gering schätzende Wörter zu vertreiben. Sie lehnten Einladungen in Kinderwelten ab und bestimmten selbst die Spielregeln. Sie hatten keine Ahnung, weil sie ihre eigenen Gefährten längst als unbrauchbare kindische Illusionen vertrieben hatten, die ihnen das Leben nur schwer machten. Erwachsene erfinden nicht mehr, sie sind keine Geschichtenerzähler, sie wissen nur, unwichtige und längst verklungene Worte wieder zu geben. Sie sind nicht wie Bücher. Sie sind aufdringlich und schnell gelesen. Nichts bleibt zwischen den Zeilen, kein Geheimnis ist mehr zu vermuten.

Sie verfolgte das zielbestimmte Kind, das sich auf ihren ehemaligen Lieblingsplatz zubewegte. Ein Uferplatz mit blauen Libellen, vor denen sie heute noch erschrickt. Sie beobachtete, wie es sich auf ein kleines Grasstück setzte, nachdem es den Ort sorgfältig auf die Abwesenheit von lästigen Ameisen geprüft hatte. Es winkelte seine Beine an, umschlang es mit seinen Ärmchen und starrte auf die Wasseroberfläche, es sah den Wasserläufern zu und überlegte sich, dass sie es wohl waren, die Jesus übers Wasser trugen, denn kein Mensch konnte auf dem Wasser gehen. Das stand fest. So ein Blödsinn, den sich manche Erwachsene erzählten!

Sie schien zu wissen, was passieren sollte. Sie versteckte sich hinter einem Baum und beobachtete einen etwas älteren Jungen, der im Wasser schwamm und auf das Ufer zu kam, an dem das Mädchen saß. Es erschrak sich sich so sehr, dass es aufsprang, seinen Roller schnappte und sich zur schnellen Flucht bereit hielt. Das änderte sich schnell, als der Junge seine Richtung änderte und wieder davon schwamm. Schnell rannte es an den Rand des Ufers und rief: «Feigling! Und außerdem ist hier Schwimmen verboten!» Er reagierte nicht. Das machte es wütend. Da es nichts machen konnte, begann es, ihm Fragen zu stellen, wo seine Eltern seien, warum er ständig untertauchte, ob er etwas verloren habe, woher er komme und in welche Klasse er gehe. Er antwortete sehr karg aber freundlich. Schließlich meinte er, dass er nicht wisse, wonach er suche. Aber er habe schon oft etwas gefunden. Er schwamm an eine andere Stelle, stieg aus dem Wasser und kam plötzlich mit einem alten Stoffbeutel gelaufen, in dem er seine kleine Sammlung aufbewahrte: Ein paar Steine, ein Matchbox-Auto aus dem Westen, verrostetes Besteck, ein seltsamer Haken, etwas, das aussah, wie ein Geldbeutel und noch ein paar andere Kleinigkeiten. Der Junge strahlte übers ganze Gesicht, während das Mädchen sehr skeptisch und ein wenig enttäuscht schaute. Da hatte es doch neulich im Fernsehen von einem Seemonster in einem anderen Land gehört, und überhaupt waren in vielen Filmen trübe, stille Gewässer Nährböden für düstere Geheimnisse.

Das kleine Mädchen wurde sauer. Warum musste dieser dumme Junge denn auch da unten herum wühlen? Da hatte es sich so viele schöne Geschichten ausgedacht über die Geheimnisse des Sees. Was hatte der überhaupt hier zu suchen? Er war nach ihm hier. Und jetzt kommt der und macht mit ein paar Tauchabenteuern alles kaputt. «Pah! So ein paar Kleinigkeiten. Kann ja jeder! Habe ich sogar schon hier im Wald gefunden! Habe ich aber liegen lassen, ist doch nur Klimbim. Braucht doch keiner!»

Sie beobachtete das Gesicht des Jungen. Er tat ihr leid. Er fühlte sich sichtlich vor den Kopf gestoßen. Er sackte in sich zusammen. Das Mädchen hatte mit ein paar dummen Bemerkungen seinen ganzen Reichtum für bankrott erklärt. Aber so einfach wollte er nicht aufgeben. Wie sollte er ihr auch begreiflich machen, dass ihm diese Dinge so viel bedeuteten, weil er sie nicht im Wald sondern eben in der Tiefe des schmutzigen Wassers gefunden hatte, oft nur durch Ertasten? Doch er fand die Sprache nicht. Deshalb beschloss er, dem Mädchen etwas herauf zu holen, was wirklich einmalig war, was es zuvor vielleicht noch nie gesehen hatte! Er lief langsam ins Wasser, zitterte ein wenig, drehte sich kurz nach dem Mädchen um und begann erneut zu tauchen.


Doch es war alles gesagt,
alles vernommen,
alle Zweifel verjagt
alle Tümpel durchschwommen.


Sie wusste, wohin das führen sollte. Der Junge tauchte nicht wieder auf. Das Mädchen sorgte sich nicht. Am Anfang wartete es. Es wartete immer wieder von Neuem, immer ein paar Sekunden, damit es nicht zu lange dauerte. Es schaute sich um, ob er nicht an eine andere Uferstelle geschwommen war und sie von dort aus beobachtete. Es sah ihn nicht. Aber da war noch sein Beutel. Allmählich wurde es ihm zu seltsam. Es hob den Roller auf und fuhr davon.

Sie wusste nicht, was aus dem Jungen geworden war. Aber dieses Mädchen, das war sie einst selbst gewesen. Sie erschrak über diese Ignoranz. Sollte sie am Tod des Jungen Schuld sein? Wie hat sie als Kind die Erwachsenenwelt verabscheut und hat nun dem Jungen die gleiche Ignoranz entgegen gebracht, die es als Kind selbst so verletzt hatte. So erklärte sie sich die Grausamkeit der Kinder als abgeschaut von den Erwachsenen. Welche Alternativen begegnen denn einem Kind? Konnte sie sich damit entlassen?

Damals besuchte sie als dieses Kind zwei Tage später die gleiche Uferstelle. Der Stoffbeutel lag am gleichen Ort. Er musste ihn vergessen haben oder er hatte ihn absichtlich dort liegen lassen, weil er einsah, dass er nur Schund gesammelt hatte. So kleisterte sie sich als Kind diese Bruchstelle zusammen - und kam bis zum heutigen Tag nie wieder an diesen Ort. Auftauchende Fragen wurden durch Therapeuten verwissenschaftlicht und wegtherapiert. Seitdem schwiegen diese Fragen mit ihr. Aber nun war dieses Schweigen verklungen. Das unverstandene Kind war erwachsen geworden und wollte endlich eine Antwort, die es verstand. Es kam immer öfter und forderte seine Antworten ein. Und es war längst nicht mehr das einzige, das sie besuchte.

Zum ersten Mal dachte sie darüber nach, dass Sterblichkeit ein Trost sein könnte. Denn irgendwann würden auch ihr die Geschichten ausgehen. Wenn sie diese nicht zu fest stehenden Wahrheiten werden lassen wollte, so mussten sie sich verändern. Und wenn sie eines Tages keine Geschichten mehr parat hätte, dann müsste sie auf die alten zurück greifen oder sich Geschichten von Anderen erzählen lassen. Und wenn eines Tages die Geschichten immer gleich blieben, würde das Leben monoton - es wiederholte sich nur, immer und immer wieder. Schützt uns der Tod vor dem eigenen Stillstand?


Nun war alles gesagt
alles vernommen,
wer nicht zu antworten wagt,
dem wird die Frage genommen.


Und wenn der Junge nicht wieder auftauchte, dann musste er wohl gefunden haben, wonach er suchte. Da blieb kein Zweifel.



Erstellt: 18. April 2006 - letzte Überarbeitung: 18. April 2006
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