BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bruchstellen: ‹Die Sorge›»
von Lou C. Orange
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„Macht, daß ihr hier wegkommt! Da wird ja wieder die ganze Wäsche schmutzig bei Eurer Ballspielerei!“

Da standen sie verständnislos und wie angewurzelt ob der faltigen Gesichter und bösartigen Stimmen, denen jedes Kinderspiel verhaßt war. Hatten diese armen Alten denn nie einen Ball besessen, um die Freude an diesem Spiel zu verstehen, oder es wenigstens zu belächeln? Stattdessen bewegten sie sich hinter ihren Gardinen hin und her und auf und ab, mißtrauisch, neidisch gar und verbittert, um bei der nächsten sich nur anbahnenden Gelegenheit die unschuldigen weißen Schleier in einem unnatürlichen, jugendlichen Schwung zurückzureißen, das Fenster aufzuschwingen und ihre Schimpftiraden – gepaart mit dem moralischen Anstandsfinger, der keinen Zweifel am Recht der Alten zuließ – hinaus in die Welt zu verkünden.

Nach dem verhallenden Wortschwall wendete sich die kleine Gruppe ratlos vom Wäscheplatz ab – dem Parkplatz zu. Niemand hatte sie je aus Angst um das eigene Auto vom Parkplatz vertrieben, wahrscheinlich auch deshalb, weil er außerhalb der Sichtweite lag. So schlurften sie verunsichert und ratlos dorthin. Ein paar Trabbis, Wartburgs und Skodas – da konnte ja nicht viel passieren ...

Laura trippelte der Truppe in ihrer abgetragenen blauen Trainingshose hinterher: „Ich steh im Tor!“ Rico, ein Mitschüler aus ihrer Klasse, äußerte sich strikt dagegen und fing unwillkürlich an zu rennen, um sich seinen Platz im Tor zu sichern. Laura wollte hinterher jagen, da bekam die Straße plötzlich dunkle nasse Sommersprossen: „Es fängt doch eh an zu regnen. Die paar Minuten kannst Du mich doch noch im Tor stehen lassen, Du kannst dann morgen!“

Der Junge war nicht aufzuhalten, und Laura lief gefrustet weit hinter den anderen her zum auserkorenen Fußballplatz. An einer Garagenrückwand vorbeigehend, bemerkte sie einen kleinen Spatz, der über die Straße auf sie zu hüpfte. Unvermittelt blieb sie stehen, verfolgte seine Richtung durch ein möglichst unauffälliges Drehen ihres kleinen, runden Kopfes und fragte sich, warum er nicht davon flog. Nachdem sie in kürzester Zeit alle möglichen Antworten durchgespielt hatte und nun wissen wollte, welche stimmte, ging sie langsam und neugierig auf ihn zu. War er verletzt? War es ein Spiel? War er zu faul? War er behindert? Fand er es einfach nur komisch? Wollte er sie zum Staunen bringen? Verunsichert wich er ihr aus, um sich schließlich im Gras und wuchernden Brennesseln unsichtbar zu machen. Nach ein paar Sekunden tauchte er wieder auf, um daraufhin ein zweites Mal – und nun vollständig – zu verschwinden. Laura suchte – und sie fand ihn, entdeckte ihn unter einem alten Abflußgitter, zirpend. Er mußte, so klein wie er war, durch eine der Spalten gefallen sein, und nun hüpfte er in einem Meter Tiefe umher, ohne zu wissen, wie er da je wieder heraus kommen sollte, und ohne daß sie wußte, wie sie ihn da je wieder heraus holen könnte.

Indessen wurde der Regen aufdringlicher, das Rauschen bedrohlich. Wolken brauten sich gefährlich über den beiden Köpfen zusammen und schlossen sichtlich ein tödliches Bündnis. Sie schaute hilflos in die dunkle wütende Wolkenwand, während der Regen ihr Haar und ihre dünnen Kleidungsstücke durchnäßte und sie daran erinnerte, endlich den Heimweg aufzusuchen. So stand sie minutenlang reglos vor diesem Gitter, die ersten Tränen kullerten unerkannt und wurden von den unzähligen Regentropfen fortgerissen. Zum ersten Mal empfand sie eine tiefe Ungerechtigkeit, war sie doch selbst zu klein, um helfen zu können.

So kniete sie sich über das gußeiserne Gitter und schaute den Vogel an, in der absurden Hoffnung, daß er leichter sterben könne, wenn sie dabei sei. Sie sah hinüber zum Fenster der Alten, die immer noch hinter den Gardinen standen und sie beobachteten. Sicher dachten sie, sie hecke etwas aus, sicher dachten sie nichts Gutes. Sie dachten nie etwas Gutes, weil sie selbst nicht gut waren, weil sie sicher keine schöne Kindheit gehabt hatten und sicher deshalb, weil sie mit keinem darüber sprachen. Und sie kannten weder Ball noch Spatz.

Sie begann laut zu weinen, und ihre Tränen rannen ununterscheidbar aus ihren Augenwinkeln, stürzten auf den schmutzigen Boden und vermischten sich mit dem tödlichen Naß. Der kleine Spatz indes hüpfte unten immer aufgeregter herum und sein Zirpen wurde immer schneller. Plötzlich stand Rico hinter ihr: „Deine Eltern haben schon ganz oft aus dem Fenster gerufen, Du sollst schleunigst nach Hause, sonst gibt’s Ärger.“ „Schau mal“, und sie zeigte mit ihrer kleinen Hand in Richtung Gitter. Rico sah hindurch: „Wie ist der denn da rein gekommen?“ „Wir müssen ihn da raus holen, der ertrinkt!“ „Wie wollen wir das denn machen? Der ist doch viel zu weit unten! Und wie willst Du denn das Ding hier heraus heben? Das ist doch viel zu schwer für uns! Außerdem müssen wir nach Hause, ich habe keine Lust wegen so einem Vogel wieder zwei Wochen Hausarrest zu bekommen. Du weißt doch, wie streng meine Eltern sind.“ Währenddessen versuchte Laura, das Gitter zu bewegen. Rico half ihr schließlich aus vollster Kraft, aber bis auf ein paar Millimeter erreichten sie gar nichts, das Gitter fiel jedes Mal mit einem lauten Knall in seine Ausgangslage zurück, stur, unbeweglich, gemein. Nun standen sie machtlos da, beide sahen auf den Kleinen, und hilflos waren sie alle drei. Langsam sammelte sich das Wasser im Abfluß. Der Spatz planschte darin herum und eigentlich hätte man vermuten können, er habe seine einzige Freude an dem kleinen Regentümpel. Sie wußten es besser. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wie alles immer eine Frage der Zeit war.

Es war eine Frage der Zeit, wann die bösartigen Alten hinter dem Fenster im ersten Stock endlich starben, genau wie es eine Frage der Zeit war, wann sie selbst endlich erwachsen würden und ihre Eltern hinter sich lassen konnten. Es war auch eine Frage der Zeit, wann sie zu Hause nicht mehr für ihr Zuspätkommen ausgeschimpft oder angeschwiegen werden würden. Nichts war so mühsam wie die Einsicht, daß alles im Leben seine Zeit braucht, und nichts war so ungerecht, wie die Verteilung dieser Zeit – während diese Alten viele Menschen unglücklich machten, hatte der Kleine hier nur noch ein paar Minuten. Warum? Was hatte er falsch gemacht?

Klitschnaß liefen sie mit hängenden und schuldbewußten Köpfen nach Hause. Es war eine doppelte Schuld. Sich wieder nicht an die Regel gehalten zu haben, war das Eine, aber ein Leben auf dem Gewissen zu haben, wog für Laura viel schwerer. Denn das eine verging durch Verzeihen und Vergessen, das andere jedoch trieb eine tiefe Furche der Schuld in ihr Gedächtnis.

Tonlos, wortlos wurde sie mit vorwurfsvollem Blick zu Hause empfangen. Niemandem schienen die Tränen aufzufallen, niemandem die Niedergeschlagenheit, niemand interessierte sich für den Grund. Man schickte sie prophylaktisch sofort in ein heißes Bad, in dem sie ausprobierte, wie es ist, unter Wasser keine Luft mehr zu bekommen. Sie dachte darüber nach, wie einsam und voller Todesangst der kleine Spatz wohl in seinen letzten Minuten war, wie sie ihn im Stich gelassen hatten, und daß sie wohl sein letztes Bild, seine letzte Hilfe und Hoffnung waren, sie beide, Laura und Rico, durch das Gitter schauend, und wie ihm zumute gewesen sein mußte, als sie ihn anblickten, wie ihm langsam das Wasser über das Köpfchen stieg, und sie dann plötzlich nicht mehr da waren. Sie dachte darüber nach, wie es war, so einsam und nach so einem kurzen Leben qualvoll zu ertrinken, wie der Kleine es womöglich im letzten Augenblick sogar bereute, nicht aufgepaßt zu haben. Sie dachte darüber nach, wie sie am nächsten Tag zur Schule gehen sollte, und wie sie überhaupt mit dieser Geschichte leben sollte – und langsam wurde das Wasser kalt und draußen schüttete sich der Regen über die Welt, während sie in ihrer Sorge um den kleinen Spatzen fast ertrank ...

Am nächsten Tag ging Laura mit Rico vor der Schule an der Rückwand der Garagen vorbei. Da sahen sie den Kleinen liegen neben dem gußeisernen Gitter – zerzaust, gebrochen, tot. Das steigende Wasser mußte ihn wohl nach oben und heraus gedrückt haben. Da standen sie nun und dachten, dies sei ihre Tat gewesen. Betrübt gingen sie weiter, wateten mit gesenkten Häuptern durch jede Pfütze, als ob man den Regen im Nachhinein für seine Ungerechtigkeiten hätte bestrafen können. Bis heute haben sie es nicht geschafft. Aber die Alten hinter dem Fenster, die sind tot.



Erstellt: 20. Juni 2009 – letzte Überarbeitung: 25. Juni 2009
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