BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bruchstellen: ‹Auf Takt›»
von Lou C. Orange
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«Atmen allein bedeutet noch nicht,
dass man lebt. Es ist nur ein Zeichen
für die anderen, welcher Körper
beerdigt werden kann und welcher nicht.
Nicht alle Menschen, die atmen
sind auch lebendig.»
(Aus: Marlo Morgan, ‹Traumfänger›)

Der Zug der vor sich herziehenden Einheitswölkchen beflügelt die Schrecken einer industriellen Stille. Eine nach Stahl und Gift riechende Lautlosigkeit mischt sich zu einem großen Hintergrundrauschen empor, ein Grundton, dem sich alles gehorsam unterordnet. Le Fil.
Man muss lauter sein, strömt durch die anhaltenden Bäche blubbernder Kraftwagen, deren Insassen auch das Geräusch des Fahrens noch durch waghalsige Musik zu dämpfen vermögen, ähnlich den Fußgängern mit Stöpseln in den völlig überreizten Ohrmuscheln.

Wo tote Dinge ihr Klangrevier verteidigen sind menschlich-organische Unzulänglichkeiten unerwünscht. Uns stört schon lange kein nächtlicher Zug, kein Flugzeug, kein anfahrender Lastkraftwagen mehr, sondern das laute Atmen, Schnarchen, unvollkommene Bewegungen, Schreib-, Sprach- und Sprechschwierigkeiten ad infinitum. Eine überkontrollierende Achtsamkeit verbreitet sich rasant in den von unmusikalischen Tönen übervölkerten Köpfen und gleichzeitig scheint der Sinn für Schönes und Pervertiertes zu schwinden, da eh alles zu einer Frage des Geschmacks und des Relativen mutiert ist.
Der angepasste Individualismus bricht sich Bahn in all den sich sprechverrenkenden Modeerscheinungen, die Sprache planlos skelettieren und auf den Benutzeroberflächen des eigenen Körpers, einem Körper, der schon vor der Geburt heiß begehrt und umkämpft wird von Elternwünschen und Interessenverbänden, Werbung und Konsumismus, von allem also, was eine eigene Betrachtung – soweit eine Betrachtung überhaupt eigen sein kann – schier unmöglich macht.

Blick, Wort und Bewegung vereinen sich im Takt eines besonderen Gleichschritts mit großen Toleranzen, damit keiner merkt, dass es nichts Unvermessenes gibt.
Die Industrialisierung des Menschen findet noch längst kein Ende. Die Technik-Mensch Symbiose wird bei der gottesgleich verehrten Produktion bedeutungsaufgeladener lebloser Sachen vor weiteren Stillständen nicht zurückweichen, denn der Mensch trägt seine eigene Negation mit sich herum, kostet sie aus, verwirklicht sie. Das Unmenschliche lehrte uns die Geschichte. Das Nichtmenschliche verehrt der Mensch, seit er sich selbst nicht mehr trauen kann.
Wo im Nationalsozialismus noch die laute Vernichtungsmaschine Mord im Mittelpunkt stand, ist die Vernichtung des Menschlichen mittlerweile ein selbstverständlicher stiller Akt, dessen Gift längst schon unsere dürftigen kleinen Seelen zerfrisst – unbemerkt, da im Einklang mit unserer Sprachlosigkeit, die sich in ewigem Floskel- und Zitatentum spiegelt.

Noch aus dem leisesten Rechner ertönt fern der Produktionslärm, die vielen anonymen arbeitenden, hektischen Finger, das Pausengeräusch, die müden Augen der Schichtarbeiter und der wahrscheinlich winzige Lohn, der in Armut treibt, hier und da Kündigungen und Betriebsunfälle, Vergiftungen, Krebs, zerrüttete Körper, Müdigkeit, Verzweiflung. An einem Päckchen Kaffee, einer Hose, einem Handy etc. klebt wahrscheinlich so viel Leid und Unrecht wie Blut an einem frisch geschlachteten Tier. Und mit jedem Kauf, kauft man das Schweigen und das gute Gewissen gleich mit dazu. Es ist alles so unglaublich toll, bunt, funktional, typisiert, zugeschnitten, ansprechend, ästhetisch, aromatisch, wohlschmeckend, einwandfrei passend, ökologisch, leise, rein und preiswert. Und es ist von allem genug, wenn nicht gar zu viel. Bigger, better, faster, more.

Die Sprache der globalen Produktion ertönt monoton und unaufhörlich wie in einem Orwell Roman:

Es gibt keine Fehler oder Mängel!
Es gibt nur Abfall oder Makellosigkeit!
Alles ist geplant!
Keiner muss sich Sorgen machen!
Es ist alles unter Kontrolle!
Es wird alles unternommen, um unsere Ängste zu sichern!
Zeit ist Geld.

Stillstand ist Verschwendung.

Alles ist in Bewegung.

Die Nacht.

Der Tag.

Der Tod.




Erstellt: 19. Oktober 2012 – letzte Überarbeitung: 21. Oktober 2012
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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