BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Springsteen & I»
von Helmut Hansen
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Im Jahr 2012 entstand der Plan, weltweit Fans aufzurufen, in kleinen Videos ihre Liebe und Anhänglichkeit zu Bruce Springsteen und der E-Street Band zu bekunden. Hollywood-Veteran Ridley Scott und der Regisseur Baillie Walsh stellten die über 2000 Einsendungen unterschiedlichster Art zu einem Film zusammen, der am 22. Juli 2013 in 50 Ländern für genau einen Tag im Kino zu sehen war.

Einige dieser Beiträge sind im besten Sinne philosophisch. Einige genuin psychologisch. Und einige sehr emotional und pathetisch. Immer wieder wird geschildert, wann und wie Bruce Springsteen mit seiner Musik Einfluß auf das eben eigene Leben nahm, und nimmt. Offensichtlich trifft Bruce Springsteen mit seiner Musik – und insbesondere mit seinen Texten – das Lebensgefühl vieler Leute, die vor allem in den USA in ihren kleinen sozialen Räumen von den großartigen Erfolgen des finalen Kapitalismus nichts mitkriegen.

Selbstverständlich haben sich die Leitmedien 2013 bei der Vorführung des Films äußerst herablassend gezeigt («Bruce Springsteen und seine treuen Fans, das kann man ja kaum noch hören») und den Film an Hand einiger verzerrt dargestellter Beispiele verspottet – und damit natürlich Bruce Springsteen und seine Fans gleich mit. Pathos scheint für die meisten Lohnschreiber in der Spätmoderne widerlich zu sein. Dabei würde uns ein wenig Nachhilfe bei der Frage, was ‹Pathos› eigentlich bedeuten mag, weiter bringen. Fragen wir also den ‹Duden›: Pathos – als Eindringlichkeit, Erhabenheit, Inbrunst, Nachdruck, Überschwang, Weihe und Würde.

Erhabenheit, Weihe und Würde. Was macht ein Leitmedium daraus? Nur ein Beispiel: Da wird in dem Film an mehreren Stellen eine junge Frau vorgestellt, die nach der Schule – auf das Studium wartend – in einer Frühstückskantine arbeitete und um drei Uhr morgens aufstehen mußte, um dort Haferbrei zu kochen. Auf dem Weg zur Arbeit hörte sie Bruce Springsteen. Wie lautet die Schlagzeile?
«Haferbrei kochen, um die Nation voranzubringen».
Nach dem Master-Abschluß mußte sich diese Frau als Lastwagenfahrerin durchschlagen. Was machte ein wichtiges Leitmedium daraus?
«... am liebsten hört sie die karge Ausfallstraßenpoesie des Albums ‹Nebraska›, wenn sie mit dem Zehntonner über die Wüsten-Freeways staubt.»
So geht das heute. So ist Journalismus heute. Und wir sprechen noch nicht einmal von der Schmierlappenpresse. Zynismus, Häme und Postdemokratie gehören offensichtlich zusammen.

Ich möchte nur eine Szene (etwa ab Minute 16:00 bis 17:50) aus diesem Film vorstellen, die mich zentral traf. Da fährt ein etwa 40-jähriger Mann, weiß, vermutlich Mittelschicht, in seinem Auto durch eine (vermutlich) amerikanische Vorstadt. Ab und zu überholt ihn ein anderes Auto. Der Mann trägt eine sehr dunkle Sonnenbrille und wird schräg vorne vom Beifahrersitz aus gefilmt. Man sieht sein Gesicht. Er sagt:
«Bruce, Bruces Sound and the E-Street Band, sounded completely different than anything else I ever heard. With Clarence in there and the keyboard layers, and heavier drumming, it‘s like a punchy soul band or something. Sexy Sax, and hence began my love for Rhythm and Blues and Sex Music, I guess. Soul Music.
Und dann:
Bruces lyrics ... always make me feel ... like I was going to someones familiy photo album and ... looking at their life and ... feeling what they felt and ... smelling their coffee and ... feeling their ... sadness and ... their triumph ...
Und dann weint dieser Mann mit der Sonnenbrille. Er weint sehr. Er schluchzt. Eine ganze Weile.

Zynische Journalisten oder angesagte Rock- und Poperklärer können diesem Mann seinen Eigensinn und seine Eigenwahrheit nicht nehmen. Sie können sie auch nicht trivialisieren oder beschmutzen. Alle Einwände der Uninspirierten und der Pathos-Verächter zerschellen an der unanfechtbaren herzzerreißenden Eigenwahrheit dieses weinenden Mannes.

Vita ipsa.



Ins Netz gestellt am 5. April 2014
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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