BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Schneiderssohn und Bärensohn: Knut Hamsun und Bjørnstjerne Bjørnson»
von Albertine Devilder
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Bergauf

An einem Nachmittag im Januar 1880 stapft ein etwa 20-jähriger Mann einen schmalen, verschneiten Fahrweg zu dem Gutshof ‹Aulestad› im Gausdalen in Norwegen hinauf. Er kommt von weit her, von der über 160 Kilometer entfernten Hauptstadt Kristiania (heute Oslo), und er ist fast den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Der kleine Fahrweg zum Hof hinauf ist glatt, und so rutscht der junge Mann aus und fällt in den Schnee. So gut es geht, säubert er seine Kleidung und geht weiter. Oben angekommen rutscht er auf dem Glatteis direkt vor dem Haupthaus des Hofes erneut aus, fällt hin, und versucht wieder, so gut es eben geht, seine Kleidung in Ordnung zu bringen. Dann klopft er an die Haustür. Doch das Mädchen, das ihm die Türe öffnet, hält ihn für betrunken - und schickt ihn wieder fort. Der junge Mann übernachtet in einem nahegelegenen Bauernhof und spricht am nächsten Tag wieder vor. Und dieses Mal wird er eingelassen. Wer ist dieser Mann?


Schneiderssohn

Knud Pedersen wird am 4. August 1859 in Garmotrædet bei Lom im Gudbrandsdal als viertes von sieben Kindern geboren. Der Vater ist Schneider und die Familie wohnt in einer winzigen Hütte, in der Arbeitsraum, Wohnraum, Feuerstelle und Küche eins sind. Das Schlafzimmer der Familie befindet sich in einer noch winzigeren Kammer an der Rückseite der Hütte. Da dort nur mit Mühe gerade genug Raum für ein Bett ist, in dem die Eltern schlafen, werden die Kinder in eine Schublade gelegt und unter das Bett geschoben.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts sind die Zeiten schlecht in Norwegen, und viele Familien wandern nach Nordamerika aus. Auch Knud Pedersens Vater kann die Familie nicht mehr ernähren. Und so ziehen sie 1862 mit Sack und Pack auf einen kleinen Hof in Hamsund auf Hamarøy im Nordland, wenige Kilometer von Presteid entfernt. Dieser Hof gehört dem Bruder von Knuds Mutter. Hier, in dieser wilden Nordlandwelt, zwischen Gebirge und Meer, wächst Knud Pedersen auf. Als Knud 9 Jahre alt ist, verlangt der Onkel, daß die Pedersens den Hof endlich bezahlen mögen. Natürlich können sie das nicht. Zum Ausgleich der Schuld wird Knud Pedersen zum Onkel nach Presteid ziehen müssen und dort mit viel Arbeit und Prügel und wenig Essen für beinahe fünf Jahre dessen Sklave werden. Während dieser Zeit besucht Knud auch einige Tage im Jahr eine Wanderschule, doch das einzige Ergebnis dieser äußerst dürftigen Schulbildung ist - eine wunderschöne Handschrift. Mit vierzehn Jahren kann sich Knud vom Onkel befreien, und er beginnt ein ruheloses Wanderleben als Ladenjunge, Buchhalter, Schumacherlehrling, Hausierer, Lensmannsgehilfe und Hilfslehrer. Aber er hat ein Ziel vor Augen: Er will Schriftsteller werden.


Noch einmal Bergauf

Und so steht er nun an einem Januarmorgen 1880 zum zweiten Mal vor der Tür des Hofes in ‹Aulestad›. Er ist zwanzig Jahre alt, und er hat ein Manuskript unter dem Arm. Und dieses Mal wird er eingelassen. Was er auf dem Herzen hat, wissen wir bereits. Aber wir wissen noch nicht, wen er aufsucht, von wem er sich eine Unterstützung, einen Zuspruch in seinen Plänen erhofft, und warum er sein Vertrauen gerade in den Mann setzt, vor dessen Tür er steht.


Bärensohn

Bei Kvikne im Österdal steht hoch oben auf einer Anhöhe über dem Tal der Orkla ein kleiner Hof mit dem Namen Bjørgan. Es ist eine gottverlassene, einsame Gegend. Und die wenigen im Tal lebenden Bauern sind unzivilisiert und störrisch, sie hängen an alten Mythen und Traditionen und sind kaum zu beeinflussen. Erst als der auf diesem Hof lebende Pfarrer Peder Bjørnson einmal in seinem Haus einen unverschämten Bauern die Treppe hinunter wirft, wird ihm eine vorsichtige Anerkennung durch seine Gemeinde zuteil.

Auf diesem Hof Bjørgan nun wird dem Pfarrer am 8. Dezember 1832 ein Sohn geboren. Als seine Frau Elise alles gut überstanden hat, ist es bereits tiefe Nacht. Da nimmt der Pfarrer seinen neugeborenen Sohn, wickelt ihn in eine Decke und geht hinaus, bis an den Rand der Anhöhe, auf dem sein Hof steht. Zuerst blickt er hinab in das weite, schneebedeckte Tal. Kein Licht ist zu sehen. Aber er kann die kleine Stabkirche dort unten erkennen, in der er des Sonntags zum Gottesdienst ruft. Schließlich schaut er hinauf zu den so klar und hell leuchtenden Sternen. Eine ganze Weile betrachtet er den «Großen Bären», den «Kleinen Bären» und den «Polarstern». Und dann hebt er seinen neugeborenen Sohn hoch, ganz hoch, den Sternen entgegen und sagt: «Ich taufe Dich Bärenstern Bärensohn!»

Ist es verwunderlich, daß aus diesem kleinen Jungen ein großer, bedeutender Mann wird, werden mußte? Nein. Denn nach dem Umzug der Familie nach Nesset am lieblichen Romsdalsfjord besucht der Bärensohn die Schule in Molde und studiert anschließend in ‹Heltbergs Studentenfabrik›. Und seine Schul- und Studienfreunde sind Henrik Ibsen, Jonas Lie und Å.O. Vinje. Kurz, in diesem geistigen Klima mußte etwas Großes aus dem Bärensohn werden. So fängt er auch früh mit dem Schreiben an, und seine ersten Erzählungen «Arne», «Synnøve Solbakken» und «Thrond» sind großartige Beispiele für die neuromantische Literatur in Norwegen um die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Im Jahr 1880, also mit etwa fünfzig Jahren, ist Bjørnstjerne Bjørnson bereits ein Volkshochschulgründer, ein Frauenbefreier, ein Volksheld und ein wunderbarer Redner, der sich in alle moralischen und kulturellen Debatten seines Landes einmischt und diese beeinflußt - und zu dem hin die Mühseligen und Beladenen von nah und fern pilgern. 1865 schreibt Bjørnstjerne Bjørnson mit «De Nygifte» (Die Neuvermählten) das erste Problemdrama im Norden, und 1877, zwei Jahre vor der Veröffentlichung von Ibsens Drama «Et Dukkehjem» (in Deutschland eher bekannt unter dem Namen ‹Nora›), bringt Bjørnson mit «Magnhild» einen Roman heraus, in dem eine Ehefrau tatsächlich ihren Ehemann verläßt, und diesen aus guten, ja moralischen Gründen auch verlassen darf. Denn für Bjørnson ist die Frau in allen Hinsichten gleichberechtigt mit dem Mann. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, welchen Haß, welchen Abscheu sich Bjørnson mit diesen Überzeugungen von Seiten der Kirchen zugezogen hat. Das Reisetagebuch des Jesuiten Alexander Baumgartner gibt darüber Auskunft.


Bergab und wieder Bergauf

Dieser Bärensohn also ist es, den der Schneiderssohn bewundert und verehrt. Und so ist es nicht erstaunlich, daß der so ganz und gar ungebildete jugendliche Schneiderssohn als Autodidakt in seinen ersten kleinen Erzählungen den Stil seines großen und übermächtigen Vorbildes nachzuahmen versucht. Ja, der Schneiderssohn geht sogar so weit, sich die Haare in gleicher Weise hochzubürsten, wie sein vom ihm und vom Volk so tief verehrtes Idol. Wir dürfen auch nicht verschweigen, daß aufgrund dieses Aussehens hin und wieder einige Leute meinten, der Schneiderssohn sei ein illegitimer Sohn des Bärensohns. Ach, wie stolz war dann der Schneiderssohn!

Im Januar 1880 nun besucht Knud Pedersen Bjørnstjerne Bjørnson und zeigt ihm sein ‹Frida›-Manuskript, das wenige Wochen vorher von Frederick Hegel, dem Chef des Gyldendal-Verlages in Kopenhagen, abgelehnt worden war. Der Schneiderssohn hofft auf Zuspruch, auf Unterstützung, auf Förderung seines sehnlichsten Wunsches, Schriftsteller zu werden und legt sein Schicksal in die Hände des Bärensohns. Bjørnstjerne Bjørnson blättert in einer quälenden Langsamkeit im Manuskript herum - und empfiehlt ihm schließlich, aufgrund seiner Körpergröße und seines guten Aussehens, Schauspieler zu werden.

Dies ist eine schlimme Enttäuschung für Knud Pedersen. In seiner geistigen und materiellen Not vernichtet er das Manuskript und wird erst einmal für zwei Jahre Straßenarbeiter - und dabei baut er genau die Straße bei Gjøvik aus, über die er im Januar 1880 von Kristiania nach Aulestad gewandert war. Dann fährt er im Januar 1882 nach New York, kehrt 1884 todkrank nach Norwegen zurück, genest, treibt sich zwei Jahre in Norwegen herum, und versucht von 1886 bis 1888 zum zweiten Mal sein Glück in den USA zu suchen. Doch er findet es nicht und kehrt nach Europa zurück.

In Kopenhagen angekommen, versetzt er seinen Regenmantel, sucht sich das billigste Zimmer, das er finden kann und beginnt sofort zu schreiben. Er ist 29 Jahre alt, er hat kein Zuhause, keine Familie, keine Arbeit, kein Geld - und er hat keinen Namen. Doch «in einer Art Fieber schreibt er ungefähr dreißig Seiten von etwas gänzlich Neuem. ... Um die unerträglichen und unlösbaren Probleme des täglichen Lebens nicht aufkommen zu lassen, schreibt er unaufhörlich - über die unerträglichen und unlösbaren Probleme und Ängste des wirklichen, täglichen Lebens.» (Robert Ferguson) Knud Pedersen geht mit einem Teil dieses Werkes zu Edvard Brandes, dem Redakteur der Zeitung ‹Politiken›. Dieser ist davon äußerst beeindruckt und vermittelt die Veröffentlichung in der Novemberausgabe der Zeitschrift ‹Ny Jord› von 1988. Der Text wird anonym veröffentlicht und erregt ungeheures Aufsehen. Innerhalb von drei Tagen ist die Zeitschrift vergriffen.

Knud Pedersen, der Schneiderssohn, faßt die in Kopenhagen in einer Art Raptus geschriebenen verschiedenen Fragmente zu einem Roman zusammen, der am 5. Juni 1890 unter dem Titel «Sult» (Hunger) erscheint. Es ist einer der bedeutendsten Romane der Moderne. Mit seinen kurzen und präzisen Sätzen, mit seiner Hinwendung zur Introspektion, mit seinem ‹psychologischen Realismus› begründet er einen neuen Stil, den nicht nur Ernest Hemingway nachahmt und ohne den Autoren wie Kafka, Joyce, Virginia Woolf bis hin zu Samuel Beckett nicht denkbar wären. Der Autor, der Knud Pedersen heißt und sich Knut Pederson, Knut Peterson Hamsund, Knut Hamsund und schließlich Knut Hamsun nennt, sollte bald sehr berühmt werden. 1920 erhält der Schneiderssohn den Nobelpreis für Literatur. Dem Bärensohn wurde diese Auszeichnung bereits im Jahr 1903 zuteil.


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Literatur

Alexander Baumgartner S.J. (1901): Nordische Fahrten. Skizzen und Studien. Durch Skandinavien nach St. Petersburg. Dritte Auflage. Freiburg im Breisgau: Herdersche Verlagsbuchhandlung.

Robert Ferguson (1990): Knut Hamsun. Leben gegen den Strom. Biographie. München - Leipzig: List. (Das obige Zitat befindet sich auf den Seiten 148/149.)

Knut Hamsun (1936): Gesammelte Werke in siebzehn Bänden. München: Albert Langen/Georg Müller.

Thorkild Hansen (1979): Der Hamsun Prozess. Hamburg: Albrecht Knaus.

Ryszard K. Nitschke (1980): Der Figurenaufbau in Björnstjerne Björnsons Dramen. Poznan: Uniwersytet Im. Adama Mickiewicza.



Erstellt: 21. September 2004 - letzte Überarbeitung: 16. Februar 2005
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