BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Skjolden, Frühsommer 1931: Ludwig Wittgenstein und Marguerite Respinger»
von Henriette Orheim
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Ouvertüre

Marguerite Respinger und Ludwig Wittgenstein lernten sich vermutlich im Verlauf des Jahres 1928 in Wien kennen, als Wittgenstein gemeinsam mit Paul Engelmann für seine Schwester Margarete Stonborough das Haus in der Kundmanngasse bauen ließ. Thomas Stonborough, der älteste Sohn Margaretes, war gerade aus Cambridge zurückgekehrt. Dort hatte er eine junge, lebenslustige Schweizerin, Marguerite Respinger, kennen gelernt und nach Wien eingeladen.

Eines Tages verletzte sich Ludwig Wittgenstein auf der Baustelle am Fuß und mußte eine Weile das Bett hüten. Er erholte sich in Margaretes Wohnung - der ersten Etage des Schlosses Schönbrunn. Dort las er - im Bett liegend - einer Reihe junger Leute - darunter Thomas Stonborough, Talle und Arvid Sjögren, und eben Marguerite Respinger - Geschichten vom Schweizer Dichter Johann Peter Hebel vor. Marguerite war sehr beeindruckt von der Art, wie Wittgenstein diesen Dichter aus ihrer Heimat las, und Wittgenstein hatte nur Augen für Marguerite. Ja, wenn er fragte, welche weitere Geschichte sie alle gerne hören würden, sah er nur Marguerite an. Wittgenstein war fast doppelt so alt wie Marguerite.


Grande sonate pathétique

Mit Margarete Stonboroughs Unterstützung sahen sich Ludwig und Marguerite nun fast täglich. Marguerite studierte an der Wiener Kunstakademie, und nach den Vorlesungen besuchte sie Ludwig auf der Baustelle. Danach gingen beide ins Kino, meist, um sich Western anzusehen, die Ludwig so liebte, oder um in einem Café etwas zu essen. Während Marguerite sehr modisch und elegant gekleidet war, trug Ludwig wie immer ein grobes offenes Hemd und verbeulte Hosen. Gelegentlich ging sie auch mit einem der Sjögren Brüder oder mit Thomas Stonborough aus, was Wittgenstein gar nicht gefiel, denn er fühlte sich mit ihr verlobt.

Wittgenstein modellierte eine Büste von Marguerite, die er seiner Schwester schenkte, die sie in ihrem Ende 1928 endlich fertig gestellten neuen Haus in der Kundmanngasse aufstellte.

Im Januar 1929 kehrte Wittgenstein nach Cambridge zurück. Dort vertraute er Frank Ramsays Frau Lettice an, er sei in eine Wiener Dame verliebt. In der nächsten Zeit schrieb er Marguerite fast täglich, doch sie merkte erst nach ein oder zwei Jahren, daß er sie heiraten wollte. Das erschreckte sie ziemlich, denn Wittgenstein war ihr viel zu ernst, viel zu moralisch. Und er hatte ihr erklärt, daß er die Ehe für ein Sakrament, für etwas heiliges und sehr hoch stehendes halte und daß er sich eine platonische Beziehung wünsche. Vor allem jedoch wolle er keine Kinder in die Welt setzen, da dies für ihn nur bedeuten könne, «weitere Wesen ins Unglück zu stürzen.» [1] Zitiert nach: Ray Monk (1992): Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. Stuttgart: Klett-Cotta. Seite 340.

Das waren nicht die Ansichten und Überzeugungen, die Marguerite bei ihrem zukünftigen Ehemann erwartete. Und Ende 1929, als Wittgenstein wieder nach Wien fuhr um mit seiner Familie und Marguerite Weihnachten zu feiern, sagte ihm Marguerite, daß sie ihn nicht mehr küssen wolle, da sie nicht genug für ihn empfinde. Doch Wittgenstein verstand diesen Wink nicht. Er war mit seinen Gefühlen beschäftigt.

Und Marguerite scheint nicht sehr konsequent gewesen zu sein, war sie doch in den Trimesterferien des Jahres 1930 oft mit Wittgenstein auf dem Familiengut ‹Hofreith› zusammen. Am 25.April 1930 schrieb Wittgenstein, gerade nach Cambridge zurückgekehrt, in sein Tagebuch: «In Wien oft mit Marguerite. Wir haben uns viel geküßt...» [2] Vgl. Ray Monk (1992) a.a.O. Seite 316.


Coda

Im Frühsommer 1931 wollte Wittgenstein ganz ernsthaft und endlich Marguerite Respinger davon überzeugen, ihn zu heiraten. Deswegen lud er sie ein, zu ihm nach Skjolden in Norwegen zu kommen, wo sie sich beide Gedanken über ihr zukünftiges Zusammenleben machen könnten und sollten. Und Marguerite Respinger fuhr zu ihm.

Da Ludwig Wittgenstein alleine in seiner kleinen Hütte am Ende des Eidsvatnet wohnen wollte, hatte er für Marguerite eine Unterkunft auf dem Bauernhof von Anna Rebnis besorgt. Dies hatte zur Folge, daß sich Ludwig und Marguerite kaum einmal sahen. Und als Marguerite bei der Ankunft ihre mitgebrachten Sachen auspackte, entdeckte sie, daß Wittgenstein ihr heimlich eine Bibel in ihre Tasche gelegt hatte: «Bei Korinther, I, 13 - wo Paulus über das Wesen und die Tugend der Liebe schreibt - hatte Wittgenstein einen Brief zwischen die Seiten gesteckt.» [3] Vgl. Ray Monk (1992) a.a.O. Seite 340.

Marguerite kannte Wittgenstein nun schon seit etwa drei Jahren und war deswegen über seine ernsthafte Art der Vorbereitung einer Ehe mit ihr nicht erstaunt. Doch während Wittgenstein einsam in seiner Hütte saß und meditierte, betete und in der Bibel las, dachte Marguerite nicht daran, es ihm gleichzutun. Statt dessen versuchte sie in dem - auch heute noch - winzigen Ort Skjolden das zu unternehmen, was zu unternehmen war: Sie wanderte nach Vassbakken und in das Mørkrisdalen, schwamm im Fjord, unterhielt sich mit den Bewohnern des kleinen Dorfes und lernte dabei etwas Norwegisch. Und nach zwei Wochen reiste sie wieder ab.


Nach dem Konzert

Ludwig Wittgenstein und Marguerite Respinger sahen sich nach diesem ‹gemeinsamen› Sommerurlaub in Skjolden noch oft, meist bei Margarete Stonborough in Wien. Am Weihnachtsabend 1933 überraschte Marguerite Respinger Margarete Stonborough, Ludwig Wittgenstein und die anderen Freunde und Familienangehörigen mit der Mitteilung, sie habe sich mit Talle Sjögren verlobt und wolle ihn bereits zu Silvester heiraten.

Eine Stunde vor ihrer Hochzeit kam Ludwig Wittgenstein zu ihr und sagte: «Du machst eine Schiffsreise, und das Meer wird rauh sein. Bleibe mir immer verbunden, so wirst Du nicht untergehen.» [4] Vgl. Ray Monk (1992) a.a.O. Seite 362.

Marguerite war die einzige Frau, in die sich Wittgenstein je verliebte.



Erstellt: 18. August 2006 - letzte Überarbeitung: 18. August 2006
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