BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Helle Helles: ‹Haus und Heim›» [1] Helle Helle (2001): Haus und Heim. Stuttgart: DVA
von Henriette Orheim
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Ich habe vor ein paar Tagen ein unglaubliches Buch gelesen. Ja, ich war so erstaunt über dessen geniale und unnachgiebige Konstruktion, daß ich es gleich noch einmal gelesen habe. Es ist ein Roman. Ich halte ihn für ein Meisterwerk. Er markiert einen großen literarischen Sprung, ja vielleicht sogar eine neue literarische Bewegung, den Beginn einer neuen Ära. Aber der Reihe nach.

Auf der Innenseite des Schutzumschlages steht «Dänischer Superrealismus». Fangen wir mit diesem seltsamen Begriff an. Ich möchte dieses Werk eigentlich nicht so gerne in die Nähe einer Spielart des ‹Realismus› rücken. Für mich handelt es sich hier eher um eine beeindruckende Wiederbelebung des ‹Naturalismus›, ‹Neo-Naturalismus› also. Wie ich darauf komme? Dazu muß ich ein wenig ausholen. Ich bitte also um Geduld.

Als ich vor ein paar Jahren einmal Ende August nach einer längeren Wanderung durch den norwegischen Rondane-Nationalpark von ‹Høvringen› nach ‹Mysusæter› ging (eine gemütliche Tour von 5 bis 6 Stunden), um auf dem dortigen großen Parkplatz mein Auto wiederzufinden, kam ich an der ‹Peer-Gynthytta› vorbei. So spät im Jahr war die Bewirtschaftung natürlich längst eingestellt, und da es ein zwar klarer, aber sehr kalter und äußerst windiger Tag war, ging ich schnell um die aus dicken Bruchsteinen gemauerte Hütte herum, um mich in deren Windschatten zu setzen und ein wenig auszuruhen. Tja, und dort saß ein junger Norweger, etwa in meinem Alter, in einem dicken Wollpullover, mit Rucksack. Wir kamen gleich ins Gespräch, waren bald bei der norwegischen Literatur angelangt, und natürlich ging es sehr bald nicht mehr nur um die ehrwürdigen ‹Großen Vier›, sondern um Realismus – insbesondere Hamsuns psychologischen Realismus –, um Naturalismus und um den ganzen Rest. Wir plauderten wohl beinahe zwei Stunden, was unsere Lauf-Pläne ziemlich durcheinanderbrachte. Schließlich mußten wir aber doch daran denken, wieder aufzubrechen. Damit wir uns ein wenig weiter unterhalten konnten, begleitete ich ihn noch beinahe eine Stunde lang auf seinem Weg zur ‹Rondvassbu›, um dann nach einer einigermaßen abenteuerlichen Querfeldein-Stromerei schließlich glücklich meinen Lauf-Pfad nach ‹Mysusæter› wieder zu erreichen. Warum ich das alles erzähle? Weil dieser nette und kluge norwegische Lehrer mir seine Definition von ‹Naturalismus› und ‹Realismus› mit auf den Weg gab, die ich bis heute nicht nur nicht vergessen habe, sondern die ich auch äußerst treffend finde:

Im Literarischen Realismus gibt es soziale Unterschiede und Ungleichheiten zwischen den Menschen, aber es gibt noch Hoffnung, diese Unterschiede durch die Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse beseitigen zu können!

Im Literarischen Naturalismus gibt es ebenfalls soziale Unterschiede und Ungleichheiten zwischen den Menschen, aber es gibt keine oder kaum Hoffnung, die Verhältnisse je ändern zu können. Menschen und insbesondere ‹Mächtige› und ‹Ohnmächtige› ändern sich und ihre sozialen Positionen nicht!

Und was hat diese treffliche Unterscheidung nun mit dem Roman von Helle Helle zu tun? Jede Menge. Es geht in diesem Roman zwar nicht um soziale und politische Verhältnisse (die sind in der Postmoderne absolut uninteressant). Aber wenn wir lesen und miterleben, wie sich die beteiligten Personen in sozialen Spielräumen bewegen, die fast ganz und gar festlegen, welche Lebensäußerungen die Personen zeigen werden, das ist wahrlich ergreifend!

Psychologisch gesehen ist der Roman von Helle Helle also ‹naturalistisch›, da es kaum Hoffnung gibt, daß die in ihren schmalen Laufwegen festgehaltenen Personen je die konditionierte Lauf-Bahn ihrer lokal-sozial definierten Lebensäußerungen verlassen oder sich an ihren Eigenbewegungen entzünden könnten. Statt dessen ereilt uns während und nach der Lektüre die Gewißheit, daß die Romanfiguren sich an sozialen Leitseilen entlanghangeln, ohne wirklich mitzukriegen, was los ist.

Es gibt in diesem Roman keinerlei Beschreibungen eines Innenlebens, keine Gefühle, kein Empfinden (Ich habe nur zwei Stellen in dem Buch gefunden, wo das Wort «fühlen» auftaucht). Statt dessen liefert Helle Helle eine beinahe rücksichtslose Aufzeichnung von Verhalten, von Lebensäußerungen. Das läßt den psychologischen Realismus eines Knut Hamsun oder eines James Joyce völlig vergessen. In diesem Roman wird kein ‹Bewußtseinsstrom› beschrieben, sondern ein ‹Verhaltenstrom›. Behaviorismus pur! ‹Naturalismus› pur!

Und, alles was die Menschen in dem kleinen Roman sagen und tun, dient allein der Ich-Stabilisierung, der Aufrechterhaltung der eigenen Geschichte von sich selbst, ja der Selbstachtung. Es geht um ‹Impression-Management›, um die Inszenierung, die Darstellung, die Präsentation der eigenen Person, um die Absicherung dessen, was für die eigene Person gehalten wird. Deswegen auch – bei gleichzeitiger äußerster sozialer Konformität – die vielfältigen interaktiven Meinungs- und Geschmacksabgrenzungen. So kann eine Romanfigur auch in drei direkt aufeinanderfolgenden Szenen genau drei mal ein und dieselbe Geschichte völlig unterschiedlich erzählen. Je nachdem, wem sie das erzählt. So ist das Leben.

Und um was geht es in dem Buch? Was geschieht? Nicht viel. Und ich will auch nicht viel verraten: Anne, die Hauptperson, zieht in ein neugekauftes Haus in einer kleinen Stadt, in der sie schon einmal gewohnt hat. In 4 Wochen wird ihr Freund nachkommen. Bis dahin möchte sie schon einiges in «Haus und Heim» schön machen. Sie trifft ein paar alte Freundinnen, Nachbarn, den Pfarrer von nebenan. Ihr Freund zieht nach. Sie wohnen zusammen. Nichts besonderes.

Helle Helle hat mit ihren kühlen, akribischen, gründlichen, schonungs- und gnadenlosen Beschreibungen eine neue Literaturgattung begründet. Kleiner mach' ich's nicht!



Erstellt: 4. Mai 2001 – letzte Überarbeitung: 4. Mai 2001
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