BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Frode Gryttens: ‹Was im Leben zählt›» [1] Frode Grytten (2001): Was im Leben zählt. Roman. Zürich: Nagel & Kimche.
von Henriette Orheim
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«Ich sitze auf dem Dach und spüre, wie der Arbeiterblock unter mir lebt. Die Akkorde des Alltags dringen aus den Fenstern. Geschirrklappern, Popsongs, Fernsehgeräte, Streitereien, Stimmen. Es ist ein neuer Tag, ein neuer Song, ein Bienenhaussong.»

Ein kleiner Junge, gerade mal sieben Jahre alt, der gleich oben auf dem Dach mit Hüten jonglieren wird, weil er einmal Clown werden möchte, blickt hinunter auf seine kleine Stadt. Nein, eigentlich ist es ein Mann, der hinunterblickt und sich selbst dabei beobachtet, wie er an der Hand seiner Mutter zum ersten Mal in die Schule geht und dort alle damit überraschen wird, daß er die Geburtsdaten aller seiner neuen Mitschüler auswendig aufsagen kann. Nein, auch nicht, im Grunde geht es um ein Wiedersehen, ein Klassentreffen, fünfundzwanzig Jahre nach dem Schulabschluß. Und jede Stufe, die der Mann die Treppe im Arbeiterblock hinaufgeht, jede Stufe rührt an Geschichten, öffnet kleine Türen der Erinnerung.

Dies ist eine der Geschichten rund um ein großes Wohnhaus – den ‹Arbeiterblock› – in der kleinen norwegischen Industriestadt Odda. Frode Grytten erzählt eine ganze Reihe solcher Geschichten. Da ist zum Beispiel ein vierzigjähriger einsamer Mann, der seiner sterbenden Mutter eine Freude machen möchte und ihr deswegen erzählt, er hätte eine Verlobte. Leider stimmt das nicht. Und da seine Mutter seine Verlobte nun gerne kennenlernen würde, geht er also zum Busbahnhof und versucht, eine Frau zu finden, die bereit ist, diese Rolle zu spielen. Und tatsächlich trifft er eine junge fröhliche Frau, die versteht, um was es geht. Sie wird ihn zu seiner Mutter begleiten. Dort wird sie nicht nur die angebliche Verlobte so echt und einfühlsam mimen, daß seine Mutter überglücklich sein wird, nein, er selbst wird sie immer netter und liebenswerter und wunderbarer finden. Aber als er auf den Gedanken kommt, daß sich etwas aus dieser Begegnung ergeben könnte, ist sie schon wieder zurück zum Bahnhof gegangen, um ihren Bus zu erreichen.

In anderen Kurzgeschichten dieses Buches treten auf: Ein falscher Polizist , eine Supermarktkassiererin, eine Kinokartenverkäuferin, eine Filmemacherin, die aus den USA nach Odda zurückkehrt, ein nasser sozialdemokratischer Politiker, ein Fabrikdirektor und viele viele mehr.

Das Besondere an diesen Geschichten, die natürlich an Raymond Carver [2] Siehe die Buchgeschichte zu «Raymond Carver». und an Robert Altmans ‹Short Cuts› erinnern, ist, daß sie nicht nur aus einer Perspektive erzählen, denn die Hauptpersonen sind mal männlich, mal weiblich, mal kommen die Erzählungen in ‹Ichform›, mal als Bericht oder gar als Krimi daher. Aber alle Personen und ihre Erlebnisse sind wunderbar einfühlsam und genau beobachtet und beschrieben. Überhaupt ist die Konstruktion der einzelnen Handlungsfäden und die zielsichere Ansteuerung der anrührenden Pointen wirklich meisterhaft.

Besonders schön finde ich die vielen kleinen Hinweise, Puzzlestückchen, Spuren und Anknüpfungen, die die einzelnen Schicksale der Personen und die durchaus aufregenden Ereignisse miteinander verweben, die Bezüge herstellen, die aus einem scheinbaren Nebeneinander eine symphonische Ordnung, einen sozialen Akkord, ein Porträt des Lebens, des So-Seins machen. Frode Grytten nennt sein Buch nicht ohne Grund «Roman». Man muß nur genau lesen, um sich daran erfreuen zu können, was es zum Beispiel mit der letzten Nacht im August auf sich hatte, die die erste und die letzte Geschichte in dem Buch von Frode Grytten – fast ganz unmerklich – verbindet.

«Was im Leben zählt» von Frode Grytten, das sind 25 kleine Geschichten, die uns beim Nachdenken darüber, was im Leben wirklich zählt, nicht im Stich lassen. Dies Buch läßt uns erahnen, was das Leben in einem kleinen sozialen Kosmos einer kleinen Stadt eines kleinen Landes ausmacht. Oder ist es unser eigenes Leben, das hier beschrieben wird?



Erstellt: 4. Mai 2001 – letzte Überarbeitung: 20. Dezember 2001
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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