BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Jenseits der Werke: 'Traurige Tropen'»
von Bethchen B.
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Eröffnung

Meine Beziehung zu den «Traurigen Tropen» von Claude Lévi-Strauss [1] Claude Lévi-Strauss «Traurige Tropen» 2. Auflage, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1978. Originalausgabe (1955): «Tristes Tropiques», Librairie Plon. begann lange, bevor ich das Buch letztendlich gelesen habe. Eine Arbeit der Medientheoretikerin Avital Ronell aus den frühen 90er Jahren erhellt die Bedeutung der Massenmedien für die amerikanische Kriegspropaganda während des Golfkriegs [2] Avital Ronell «Support our tropes II», in Fleck, Robert (Hrsg.) «On Justifying the Hypothetical Nature of Art and the Non-Identicality within the Object World». Köln: Buchhandlung Walther König. Das Buch ist anläßlich einer gleichnamigen Installation von Peter Weibel erschienen. . Sie analysiert Sprachbilder und zeigt, wie der mediale Diskurs den Krieg gegen den Irak für die Weltöffentlichkeit als einen gerechtfertigten chirurgischen Eingriff an einem moralisch kranken, weiblichen geographischen Körper erscheinen ließ. In ihrem Aufsatz stieß ich erstmals auf den schönen Begriff «Trope» oder «Tropus», der eine literarische Wendung, eine linguistische Verdrehung und eine Ausdrucksvertauschung bezeichnen kann.

Kurze Zeit darauf las ich dann an anderem Ort über die «Tristes Tropiques» von Lévi-Strauss, offenbar eine Verknüpfung von Reiseroman und ethnologischen Reflexionen. Immer anfällig für den Charme von Sprachspielen aller Art klingt die selbstbezügliche semantische Ambiguität des deutschen Titels «Traurige Tropen» in meinen Ohren wie reine Poesie. Kurzum erklärte ich diesen auf den zweiten Blick eigentlich etwas zu plakativen Stabreim zu meinem Lieblingsbuchtitel. Allein, Anreiz genug, mich dem Buch sofort zu widmen, war der Titel nicht. So erklang dann zwar über die Jahre hinweg der bezaubernde Titel immer mal wieder in meinem inneren Ohr, aber das Buch selbst war eigentlich kein Thema.

Bis ich dann vor kurzem auf einem Strassenfest endlich die «Traurigen Tropen» fand. Oder besser gesagt, sie fanden mich. Dort lagen sie, auf einem vermodernden Tapeziertisch, in einem unbeschadeten festen Einband, und dazu noch in einem Umschlag in meiner Lieblingsfarbe: einem fahlen Grün, punktgenau auf der Schwelle zu einem erlöschenden matten Gelb, und das ganze getragen von einem kraftlosen grauen Grundton. Herrlich, da frohlockt die bibliophile Seele [3] Um so enttäuschter war die bibliophile Seele, als ihr ein Freund seine aktuelle Ausgabe der «Traurigen Tropen» zeigte, für die der Suhrkamp-Verlag wieder auf seine bewährten «Hoppla-ich-bin-intellektuell»-Signalfarben zurückgegriffen hat. . Das Zeichen war mehr als eindeutig. Dieses Buch, das ohnehin schon meinen Lieblingstitel trug, wartete dort – gehüllt in meine Lieblingsfarbe – auf mich, damit wir endlich zueinanderfänden. Das taten wir. Und lernten uns lieben.


Klammer und Zwiespalt

Die große Klammer der «Traurigen Tropen» sind die Forschungsreisen, die Lévi-Strauss in den dreißiger Jahren zu aussterbenden Indianervölkern im brasilianischen Urwald geführt haben. In der Rückschau, mehr als zwanzig Jahre später geschrieben, ist sein fragmentarischer Charakter – basierend auf Notizen – eine besondere Stärke des Reiseromans. Ähnlich wie Roland Barthes in den «Fragmenten einer Sprache der Liebe» [4] Roland Barthes (1988) «Fragmente einer Sprache der Liebe». Frankfurt am Main: Suhrkamp. die Sprache der Liebe lebendig werden läßt, indem er die Fragmente voneinander unabhängig zueinander gesellt, so werden die konkreten Ziele der Reisen Lévi-Strauss' lebendig, weil sie ihren eigenen Ort behalten dürfen und dadurch so weit als möglich von innen heraus erkundbar werden. Eine opulente und lyrische, aber nie überbordende Sprache läßt den verblühten Zauber der Tropen und die Faszination seiner zum Niedergang verdammten «primitiven» Ureinwohner mehr als nur erahnen.

Aus der Klammer des darstellenden Reiseromans bricht Lévi-Strauss immer wieder aus und widmet sich grundsätzlichen Fragestellungen. Über die ethnographische Berichterstattung hinaus erscheinen die «Traurigen Tropen» als ein großangelegter Versuch, die Zwiespälte zu formulieren, in denen sich Lévi-Strauss als Ethnologe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befindet, wenn er als Forscher an der Analyse der Strukturen «primitiver» Gesellschaften interessiert ist, sich diesen Gesellschaften als Mensch aber mindestens genau so nahe fühlt, wie der eigenen westlichen Zivilisation. In wissenschaftstheoretischen Begriffen könnten die «Traurigen Tropen» als fast musikalische Oszillationen zwischen der Beobachtung erster und der Beobachtung zweiter Ordnung beschrieben werden. Aus soziologischer und philosophischer Perspektive kündigt Lévi-Strauss selbst bereits den Übergang vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus an, wenn ihn die Ahnung der Unmöglichkeit objektiver Beobachtungen wiederholt zu melancholischen Reflexionen veranlaßt:

«Die anderen Gesellschaften sind vielleicht nicht besser als die unsere; selbst wenn wir geneigt sind, dem zuzustimmen, besitzen wir doch keine Methode, es zu beweisen. Wenn es uns aber gelingt, diese fremden Gesellschaften besser kennenzulernen, verschaffen wir uns eine Möglichkeit, uns von der unsrigen zu lösen, nicht weil sie absolut schlecht oder als einzige schlecht wäre, sondern weil sie die einzige ist, von der wir uns emanzipieren müssen.» (S. 388)


Gesellschaft als Gesamtkunstwerk

Trotz Lévi-Strauss' offenkundigem Zweifel an der Existenz objektiver ethnologischer Methoden und einer ausgeprägten soziologischen Pragmatik gelten seine Forschungen aber letztlich doch der Entdeckung von «unerschütterlichen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft» (S. 386). Aber gerade dieser – in dekadenten skeptischen Augen – naive Glaube an die Existenz absoluter Bausteine ist erneut eine Stärke der «Traurigen Tropen», denn so bekommt der dankbare Leser wiederholt ausladende Lektionen in angewandtem strukturalistischem Denken, oder dem was Lévi-Strauss selbst «Strukturale Anthropologie» nennt. Der Höhepunkt dieser Lektionen ist die Analyse der Grundstruktur der Caduevo-Kultur, eines Indianerstamms der brasilianischen Hochebenen. Nach der Identifikation der wesentlichen Elemente der Eingeborenengesellschaft wird das zur Verfügung stehende Repertoire zur Kombination der Grundbausteine beschrieben, um die Gesamtheit der Bräuche und so das relativ stabile Fließgleichgewicht der Stammesgesellschaft greifbar zu machen. [5] Die ihr nahestehende Autorin ist an die Arbeitsweise der Bochumer Arbeitsgruppe erinnert. Der wesentliche Unterschied zwischen einem sozialen Konstruktivismus und einer strukturalen Anthropologie ist vermutlich rein ideologischer Natur: Wenn Lévi-Strauss nach idealen, platonischen Elementen und strukturalen Kombinationsmöglichkeiten sucht, würde eine soziale Konstruktivistin auch die «letzten» Elemente und die legitimen Kombinationen als abhängig vom sozialen System definieren. Vermutlich.

«Der Caduevo-Stil konfrontiert uns also mit einer ganzen Reihe komplexer Probleme. Zunächst gibt es einen Dualismus, der wie in einem Spiegelsaal auf die verschiedenen Ebenen projiziert wird: Männer und Frauen, Malerei und Bildhauerei, Darstellung und Abstraktion, Winkel und Kurve. […] Aber diese Gegensätze fallen erst nachträglich auf; sie haben statischen Charakter. Die Dynamik der Kunst, d.h. die Art und Weise, wie die Motive erfunden und ausgeführt werden, überschneidet diese Dualität auf allen Ebenen: denn die primären Themen werden auseinandergebrochen, dann zu sekundären Themen wieder zusammengesetzt, die in vorläufiger Einheit Fragmente der ersteren ins Spiel bringen, und diese werden dann so nebeneinandergestellt, daß die ursprüngliche Einheit wie durch ein Gaukelspiel erneut auftaucht.» (S. 183)

Daß Lévi-Strauss das Grundmotiv des Zusammenspiels der Caduevo-Gesellschaft für den Leser fast wie eine Bachsche Fuge erklingen läßt, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit beabsichtigt. Menschliche Gesellschaften, und insbesondere ihr Zusammenleben in städtischen Grenzen, vergleicht Lévi-Strauss ausdrücklich mit einer Symphonie und einem Gedicht. Ohne linear vom Individuum über die Gruppe zum interkulturellen Zusammenleben fortzuschreiten, formen die «Traurigen Tropen» ein Mosaik der menschlichen Gesellschaft, das lokal, aber auch global als ein evolvierendes Gesamtkunstwerk betrachtet werden kann. [6] Dabei beklagt Lévi-Strauss natürlich implizit, zum Teil aber auch explizit, den unaufhaltsamen, stetigen Verfall des menschlichen Gesamtkunstwerks. Sonst würde eine dekadente Skeptikerin diese Ode auf die «Traurigen Tropen» ja nicht schreiben.

«Als Gemeinschaft tierischer Wesen, die ihre biologische Geschichte in den städtischen Grenzen einschließen und dieser Geschichte gleichzeitig den Stempel denkender Wesen aufdrücken, entsteht die Stadt, ihrer Genesis und ihrer Form nach, sowohl aus der biologischen Fortpflanzung, wie aus der organischen Entwicklung und der ästhetischen Schöpfung. Sie ist sowohl Naturobjekt als auch Kultursubjekt; Individuum und Gruppe; Erlebnis und Traum: das Menschliche schlechthin.» (S. 114)


Spirituelle Dialektik

Auf der Rückreise, oder vielmehr zwanzig Jahre später in der Rückschau, findet Lévi-Strauss die Muße und gestattet sich einen abschließenden universalen Kulturvergleich zwischen den großen drei Weltreligionen Islam, Buddhismus und Christentum. Die prägende Struktur des Islam, und weniger stark ausgeprägt auch die des Christentums, sieht Lévi-Strauss in einer Verringerung von Komplexität durch Ausschluß, nachzuvollziehen im Ausschluß der Frauen vom gesellschaftlichen Leben und im Ausschluß der Ungläubigen aus der Gemeinschaft der Gläubigen. Ruhe wäre demnach vor allem im Islam, aber auch im Christentum, allein durch Abgrenzung gegenüber Fremdem zu erreichen. Der von Zwiespälten geplagte und sich nach Ruhe sehnende Ethnologe versteht demgegenüber den Buddhismus als eine dem Fremden offene Religion der Verschmelzung und der Reintegration von Dualitäten. Die unauflösbare Oszillation zwischen Beobachterperspektiven und die Ahnung der Ungreifbarkeit letzter Erkenntnisse führt Lévi-Strauss an die Grenzen der rationalen Vernunft.

«Jedes Bemühen um Verständnis zerstört den Gegenstand, mit dem wir uns befassen, zugunsten eines anderen Bemühens, das ihn wiederum vernichtet zugunsten eines dritten und so weiter, bis wir den Zugang finden zu der einzigen dauerhaften Gegenwart, derjenigen, bei der sich der Unterschied zwischen Sinn und dem Fehlen von Sinn verflüchtigt, jener von der wir ausgegangen waren.» (S. 408)

Einmal im Offenen hebt der Dialektiker Lévi-Strauss die Gemeinsamkeiten von Marxismus und Buddhismus ausdrücklich hervor.

«Wir sind nicht allein, und es steht nicht bei uns, taub und blind für die Menschen zu sein oder uns einzig zur Menschlichkeit in uns selbst zu bekennen. Der Buddhismus kann kohärent bleiben und trotzdem den Rufen von draußen antworten. Vielleicht hat er sogar in einem großen Teil der Welt das fehlende Glied in der Kette gefunden. Denn wenn jenes letzte Moment der Dialektik, das zur Erleuchtung führt, legitim ist, dann sind auch alle die anderen legitim, die ihm vorausgegangen sind und ihm gleichen. Die absolute Verweigerung des Sinns ist das Ende einer Reihe von Etappen, von denen jede von einem geringeren zu einem größeren Sinn führt. Der letzte Schritt, der aller anderen bedarf, um vollzogen zu werden, verleiht ihnen allen Gültigkeit. Auf seine Weise und auf seiner Ebene entspricht jeder einer Wahrheit. Zwischen der marxistischen Kritik, die den Menschen von seinen ersten Ketten befreit – indem sie ihn lehrt, daß sich der scheinbare Sinn seiner Lage verflüchtigt, sobald er akzeptiert, den Gegenstand, den er betrachtet, weiterzufassen – und der buddhistischen Kritik, welche die Befreiung vollendet, besteht weder ein Gegensatz noch ein Widerspruch. Beide tun sie dasselbe, wenn auch jeweils auf anderer Ebene.» (S. 409)


Etappen des Werdens

Die Zwiespälte des Ethnographen werden so am Ende nicht beseitigt, sondern synthetisiert. Lévi-Strauss' Dialektik folgt nicht nur Marx und Buddha, sondern scheinbar unbewußt auch dem Beispiel der brasilianischen Caduevo-Indianer: statischen, lokalen Widersprüchen wird die Spannung genommen, indem sie auf einer anderen Ebene dynamisch integriert werden. So entsteht am Ende der «Traurigen Tropen» ein Bild eines aus verschachtelten Systemen bestehenden Lebens, sowohl auf individueller, wie auch auf gesellschaftlicher Ebene. Wie die Etappen zur Erleuchtung sich gegenseitig konzentrisch einschließen, wie jede Synthese auf einer anderen Ebene wieder zur These wird, so leben wir als Menschen ebenfalls in koexistierenden, sich gegenseitig einschließenden und bedingenden Welten.

«Die Geschichte, die Politik, das ökonomische und soziale Universum, die physische Welt, ja sogar der Himmel umgeben mich wie konzentrische Kreise, denen ich mich durch das Denken nicht entziehen kann, ohne jedem von ihnen einen Teil meiner Person zu konzedieren. So wie der Stein, der auf der Oberfläche des Wassers, in das er fällt, Ringe erzeugt, bevor er den Grund erreicht, so muß auch ich mich zuerst ins Wasser stürzen.» (S. 410)

Denn der Grund des Wassers ist der letzte Ort der Ruhe, der dem Ethnographen und mit ihm jeder Gesellschaft unabhängig von ihrer sozialen Struktur, ihrem religiösen System und ihrem kulturellen Niveau die Chance bietet, sich fern aller Zwiespälte auf das Wesentliche zu besinnen.

«[…] jene lebenswichtige Chance, sich zu entspannen, loszulösen, das heißt die Chance, die darin besteht, […] in den kurzen Augenblicken, in denen es die menschliche Gattung erträgt, ihr bienenfleißiges Treiben zu unterbrechen, das Wesen zu erfassen, was sie war und noch immer ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke.» (S. 412)



Erstellt: 28. November 2001 – letzte Überarbeitung: 3. Dezember 2001
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