BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«W.G. Sebald»
von Albertine Devilder
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Warum bin ich so bewegt von Sebalds Büchern? [2] W.G. Sebald (1990): Schwindel. Gefühle. In der Reihe: Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger; Band 63. Frankfurt am Main: Eichborn.  [3] W.G. Sebald (1992): Die Ausgewanderten. In der Reihe: Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger; Band 93. Frankfurt am Main: Eichborn.  [4] W.G. Sebald (1995): Die Ringe des Saturn. Eine Englische Wallfahrt. In der Reihe: Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger; Band 130. Frankfurt am Main: Eichborn.  [5] W.G. Sebald (2001): Austerlitz. München: Carl Hanser. Was ist so ‹eigen› an ihnen? Warum rühren sie mich so an? Ist es die eher kleine Form? Die ruhige Art seines Schreibens? Ist es die überall zu entdeckende Geste der Bescheidenheit? Dieses Sich-selbst-Zurücknehmen und andere sprechen lassen? Ist es seine Langsamkeit, sein Innehalten beim Entdecken und Betrachten? Ist es die unergründbare Melange aus «poetischer Erfindung, Erinnerung und Dokumentation»? [6] Thomas Steinfeld im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 17. Dezember 2001. Ist es das durchdringende Gefühl des Unbehaustseins, welches mich – abwechselnd in zwei europäischen Ländern lebend – bei der Lektüre seiner Bücher immer wieder bezwingt? Ist es die beim Lesen seiner Geschichten oft so tief und vollständig empfundene Gefährdung des eigenen kleinen Lebens, wenn wir – wieder einmal – keine «gemütliche Kammer am Ende der Welt» für uns gefunden haben, in die wir uns – immer dann, wenn wir dessen dringend bedürfen – wie in ein Sanktuarium zurückziehen können?

Ach, es ist gar nicht nötig, dem Geheimnis von W.G. Sebalds Geschichten ‹auf die Schliche zu kommen›. Es genügt, sie zu lesen.

W.G. Sebald ist Archäologe, Historiograph und Biograph in einer Person. Das erste ist er, weil er auf seinen Reisen und Wanderungen in Europa ganz buchstäblich Geschichtliches, Vergangenes, auch Verborgenes ‹ausgräbt› und in seinen Erzählungen die Trümmer, ja das ganze Ausmaß der Zerstörung, welches der Erste Weltkrieg, der Nationalsozialismus und die Moderne mit sich brachten, sichtbar macht. Ja, Sebald lenkt in seiner Eigenschaft als Archäologe unseren Blick immer wieder auf Vergangenes, Verfallenes, Überdecktes. Wir werden reich, wenn wir seiner Blickrichtung folgen.

Historiograph ist er, weil er Gefundenes oder Ausgegrabenes liebevoll und akribisch zugleich sammelt und in Worte faßt. Er ist ein Archivar und Geschichtsschreiber erster Güte. Denn er folgt nicht den gängigen ‹objektivistischen› Wissenschaftsstandards, nein, er läßt die Landschaften und Gegenden, die er durchwandert ‹für sich sprechen›. Und wenn Sie meinen, lieber Leser und liebe Leserin, daß das nicht möglich ist, da Landschaften doch nichts ‹zu sagen haben› und nichts ‹hergeben›, dann lesen sie zum Beispiel «Die Ausgewanderten». Es ist mein Lieblingsbuch von W.G. Sebald. Und das wird es auch für Sie werden.

Und das letztere – Biograph also – ist er, weil in seinen Erzählungen immer einzelne Menschen mit ihrem einzigartigen und doch für ihre jeweilige Zeit so typischen biographischen Gewordensein im Vordergrund stehen. Sebald ist ein Bio-Graph im eigentlichen Sinne, er zeichnet ganz buchstäblich das Leben einzelner Menschen nach. Er verfolgt ihre Lebensläufe, studiert Tagebücher, Fotos und andere Quellen, vor allem aber läßt er sich das «Leben» seiner ‹Helden› von ihnen selbst erzählen. Und indem er als Erzähler seiner Erzählungen in Ichform auftritt und seine ‹Helden› ebenfalls in Ichform erzählen läßt, gleiten wir beim Lesen hin und her zwischen den verschiedenen Ichs und entdecken miteinander verwobene mystische Linien und Bruchstücke europäischer Geschichte. Unserer Geschichte.

Einigen von Sebalds ‹Helden› gelingt es nicht, eine ‹Freistätte›, einen Zufluchtsort zu finden, der ihnen das Leben sinnvoll erscheinen läßt: «Manche Nebelflecken löset kein Auge auf». [7] Dieses Motto begleitet die Erzählung «Paul Bereyter» in dem Buch «Die Ausgewanderten» (s.o.). Und wir werden Zeuge dieses verzweifelten aber stets ruhigen Scheiterns. Und W.G. Sebald zeigt, wie das alles hatte geschehen können, wie kulturelle, gesellschaftliche, soziale Zerstörungen von außen in eine Person hinein drangen. Bis zum Ende.

Obwohl ich immer wieder in seinen erzählerischen Ausgrabungen Anrührendes, ja schwindelig Machendes entdecke, will ich seltsamerweise über die Person des Schriftstellers W.G. Sebald gar nichts wissen. Ja selbst die abgekürzten Vornamen W.G. machen wir deutlich, daß ich nicht nachfragen und stöbern soll. Und ich möchte es auch nicht. Meine Neugier gilt allein Sebalds Werk. Deswegen war ich auch entsetzt, als ich in einem Zeitungsartikel seine Vornamen erfuhr. Ich habe sie aber sogleich wieder vergessen.

Leider ist W.G. Sebald tot. «Sebald, der vorsichtige Mensch, der Fußgänger und Wanderer starb (am 14. Dezember 2001) als Autofahrer – in einem Schwächeanfall plötzlich in den Gegenverkehr ausscherend, in der frontalen Kollision mit einem Lastwagen.» [8] Thomas Steinfeld a.a.O. Ich träume davon, daß es kein ‹Schwächeanfall›, sondern ein bewußter Akt allergrößter geistiger Stärke war.



Erstellt: 10. Januar 2002 – letzte Überarbeitung: 10. Januar 2002
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