BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Oskar Negt: 'Arbeit und menschliche Würde'»
von Helmut Hansen
Als PDF-Datei laden

Nachdem ich die kleine kulturphysiognomische Skizze «Vom Globalen im Lokalen» an Artus, den Sachbearbeiter der Bochumer Arbeitsgruppe geschickt hatte, rief mich dieser an und rückte in einem längeren Gespräch mit der Bitte heraus, ich möge doch eine ‹Buchgeschichte› für das Skepsis-Reservat schreiben, und zwar genau über das Buch, von dem ich meinte, es würde die Probleme der Globalisierung und des finalen Kapitalismus am besten beschreiben. Nun, wie immer konnte ich Artus keine Bitte abschlagen. Das Problem war aber, aus den vielen Büchern, die für mich in die engere Wahl kamen, nur eines auszusuchen. Kurz, lieber Leser und liebe Leserin, ich habe mich entschieden, Ihnen das Buch von Oskar Negt [1] Oskar Negt (2001): Arbeit und menschliche Würde. Göttingen: Steidl. vorzustellen.

Oskar Negt – Professor für Soziologie in Hannover und mittlerweile schon an die 68 Jahre alt – hat für das hier vorgestellte Buch einen Titel gewählt, der gleich auf Anhieb deutlich macht, worum es ihm im immer selbstverständlicher erscheinenden Globalisierungs-Wettlauf geht: Zum einen um die stetig zunehmende Polarisierung zwischen Armen und Reichen innerhalb eines beliebigen Landes und zwischen armen und reichen Ländern, und zum anderen um den Verlust menschlicher ‹Würde›. Tja, Würde. Kann man dieses Wort heute noch aussprechen, ohne ausgelacht zu werden? Oskar Negt wagt es. Denn ‹Arbeit› hat für Oskar Negt nichts mit einem ‹Job› zu tun, sondern mit ‹Würde›. Hier zeigt Negt, wie er von Kant und Marx geprägt wurde.

Und so richtet Negt seinen Blick auf zwei ‹Tatbestände› und wird gleich in seiner Vorrede sehr deutlich: «Erstens: Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt. Sie ist ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität. […] Zweitens: […] Wenn wir den gegenwärtigen Krisenzustand unserer Gesellschaft begreifen wollen, müssen wir […] die Erkenntnis zulassen, daß die Arbeits- und Erwerbsgesellschaft zu einem […] Kampfplatz geworden ist, auf dem die verfeindeten Positionen Kriegsziele definieren, [und] Grenzen von Herrschaftsgebieten, Einflußsphären, Symbolbesetzungen und Privilegien festlegen.» [2] a.a.O. Seite 10f.

Das wollen naturgemäß alle diejenigen nicht so gerne hören, die in ihrem Alltag als Macher doch so gerne ‹Herausforderungen› annehmen und dabei bequemerweise nie etwas genau wissen, sondern immer nur ‹von etwas ausgehen›. Aber Negt spricht es aus und begründet das, was er sagt, ausführlich. Und was sagt er?

Negt beschreibt in seinem Buch «Arbeit und menschliche Würde» nicht nur in außerordentlich sorgfältiger und umfassender Weise die Folgen der ‹Flexibilisierung› und ‹Globalisierung› für die Menschen, die ihre Arbeitskraft in diesen Zeiten verkaufen müssen, nein, er diskurriert auch die Ort-, Heimat- und Aussichtslosigkeit der Menschen, die zu zweit – in einer Familie etwa – jeden Tag arbeiten müssen, ohne jedoch dadurch ein Auskommen zu haben (‹working poor›). Und da immer noch und immer weiter täglich Tausende in Europa arbeitslos werden, beschreibt er die psychischen, sozialen und politischen Folgen dieser wachsenden Arbeitslosigkeit.

Und Oskar Negt unterfüttert seine Beobachtungen und Skizzen mit großen theoretischen Erwägungen. Das allein schon ist faszinierend und wunderbar zu lesen. Denn Theorien sind in der Postmoderne naturgemäß obsolet, just out. Nicht nur, weil die Beschäftigung mit Theorien für den flexiblen Menschen mühsam ist und keinen Spaß macht, sondern auch, weil sich schließlich eine Theorie als die einzig ‹wahre› erwiesen hat: Der finale Kapitalismus, der ‹die beste aller Welten› erzeugt. Und selbstverständlich versuchen alle einschlägigen Medien in der ‹Gesellschaft des Spektakels› und alle ‹Mächtigen›, sich nicht nur «als bloße Agenten der Verhältnisse ins Spiel [zu] bringen» [3] a.a.O. Seite 18., sondern insbesondere auch immer wieder zu erklären, daß ‹die beste aller Welten› keinesfalls auf einer Ideologie beruht, sondern – ganz im Gegenteil – schlicht ‹natürlich›, ja das Resultat eines geglückten Evolutionsprozesses ist.

Und wie wunderbar sich Oskar Negt gegen die derzeitige theoretische Belanglosigkeit stemmt! Er begründet das ‹wissenschaftlich›, was Raymond Carver literarisch ausgedrückt hat. Negt und Carver ergeben erst ein Ganzes. Ja.

Denn nicht ohne Grund untersucht Negt, wie es sein kann, daß bei uns regelmäßig die USA als geglücktes Beispiel für ‹Vollbeschäftigung› und ‹Deregulierung› genannt werden. Er zerlegt das ‹amerikanische Beschäftigungswunder› und zeigt, was ‹dahinter steckt›: «Große Wirklichkeitsschichten der amerikanischen Gesellschaft [sind] in ihrer Erosion und ihrem Elend nicht Rückstände der Modernisierung, sondern deren Produkt.» [4] a.a.O. Seite 274.. Schon allein wegen dieses Kapitels ist das Buch von Oskar Negt überaus lesenswert.

Aber Negt geht in seinem Buch noch viel weiter: Er untersucht, wie sich die ‹Krise der Arbeitsgesellschaft› auf die ‹politische Kultur› auswirkt, was unter einer ‹lebendigen Arbeit› zu verstehen sein könnte und wie so leere Begriffe wie ‹Ethik› und ‹Verantwortung› heute zu füllen wären.

Zum Schluß: Oskar Negt macht keinen Hehl daraus, daß er Utopien hat und von einer ökologisch orientierten Gesellschaftsform träumt, in der Menschen ihre Würde bewahren können und dürfen. Er spricht auch «Über das Besiegte», das für ihn eben keinesfalls endgültig besiegt ist. Das wirkt in der zugespitzten Postmoderne – freundlich ausgedrückt – ‹altväterlich›, und in der Sprache der kapitalistisch Fortschreitenden ‹grotesk, absurd und lächerlich›. Denn für Utopien ist in einer ‹Gesellschaft des Spektakels› kein Platz mehr. Wirklich nicht?



Kommentare:


18. März 2002

Lieber Helmut,
kurze Frage, einfache Antwort: Nein. Um es mit Kant – oder war es Kierkegaard – zu sagen: Würde ist, was keinen Wert kennt. Und da der Preis nun mal die tragende Säule des finalen Kapitalismus ist, kann in der «Gesellschaft des Debakels» auch kein Platz für Würde sein. Jenseits vielleicht, aber nicht darin.
Bestes,
Stefan



Erstellt: 13. März 2002 – letzte Überarbeitung: 18. März 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.