BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Herman Bang: Am Wege»
von Henriette Orheim
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«Seht die Sonne,
seht die Sonne über den Bergen.»

Ein kleiner Bahnhof irgendwo. Ein Bahnhofsinspektor steht in einem schicken Rock am Perron. Ein Zug hält. Menschen steigen ein und aus. Der Zug fährt wieder fort. Auf der Bank vor der Tür des kleinen Stationsgebäudes sitzt eine junge Frau, die Hände in den Schoß gelegt:

«Sie blickte über die Felder hinaus, über die großen Strecken gepflügter Erde und die Wiesen dahinter. Der Himmel war hoch und lichtblau. Da war kein Ruhepunkt für das Auge außer der Filialkirche und diese sah man mit ihrem gezackten Turm am äußersten Rande jenseits der flachen Felder. Frau Bai fror und erhob sich.»

Da ist eine Gesellschaft, mit gezirkelten sozialen Räumen, mit Anforderungen und Selbstverständlichkeiten, mit Rollen und Drehbüchern, mit klaren Regeln und immer vorab definierten Interaktionsfeldern und Sagbarkeiten. Und da ist ein Schriftsteller, der die seelischen Nöte derjenigen Gesellschaftsinsassen beschreibt, die nicht die Kraft haben, sich in diesen Räumen einzurichten, die sich nicht wehren können, ja, die sich ausgeliefert fühlen. Und der Schriftsteller - Herman Bang (1857 -1912) - zeigt uns nun, wie seelisch empfindsame Menschen in ihren sozialen Räumen psychisch und physisch schrumpfen, schwinden, verwelken und schließlich sich selbst aufgeben.

Bangs impressionistischer Stil, seine sensible und so aufmerksame ‹szenische Erzähltechnik›, verzichtet auf jeden auktorialen Eingriff. Bei Bang gibt es keinen allwissenden Erzähler, der Zusammenhänge herstellt oder Geschehnisse erklärt. Nein, es geschieht etwas, und Bang schildert die Auswirkungen dieser Geschehnisse auf eine sensible Seele. Wobei naturgemäß die robusten und selbstbewußten Nebenpersonen dieser sensiblen Seele ganz und gar verständnislos, hilflos und ohne jedes Einfühlungsvermögen reagieren, denn in einer geordneten und erwartbaren Welt kann es keinen Raum für seelische Nöte geben. Woher sollten diese Nöte kommen und wie sollten sie begründet werden, da doch alles dem geordneten Gang einer Gesellschaft folgt?

Kann bei diesem literarischen Anspruch die Handlung einer Erzählung noch eine bedeutende Rolle spielen? Nein. Die Handlung liefert ja nur eine Folie für die Beschreibung des seelisch Auszuhaltenden und zugleich ein Tableau der Wünsche, Träume, Sehnsüchte und Unerfüllbarkeiten derjenigen, die an ihrem Lebensglück vorbeigehen.

Bangs ‹Am Wege› (Ved Vejen) erschien 1886 und zeichnet das Bild einer sensiblen Frau, die mit einem robusten, ahnungslosen, unbedarften und beschränkten Stationsvorsteher oder ‹Bahnhofsinspektor› verheiratet ist. Diese Frau träumt den vorbeifahrenden Zügen hinterher und empfindet bei jedem einzelnen entschwindenden Zug ihre Verlorenheit und ihr Abgetrenntsein von der übrigen Welt, die sie sich glänzend und fabelhaft vorstellt. So gerät sie immer tiefer in eine bedrückte und bekümmerte Stimmung - bis sie sich eines Tages in einen Gutsverwalter verliebt. Alles Zurückgedrängte und Verkümmerte in ihr erwacht zaghaft in dieser Liebe und scheint ihrem Leben endlich einen Sinn und etwas Glanz zu geben. Doch ihre Liebe bleibt - wie könnte es anders sein - unerfüllt.

Ist ein Scheitern, ist eine Ästhetik des Scheiterns, jemals einfühlsamer geschildert worden?



Erstellt: 22. April 2007 - letzte Überarbeitung: 26. April 2007
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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