BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Thomas Hardy: Clyms Heimkehr»
von Henriette Orheim
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«Allein durch ihr charakteristisches Antlitz
schien die Heide den Abend eine halbe Stunde früher eintreten zu lassen;
ebenso konnte sie die Morgendämmerung verzögern, die Mittagsstunde trüben,
die Finsternis der Stürme vorwegnehmen, noch bevor diese sich zusammenbrauten,
und das Dunkel einer mondlosen Nacht zu furchterregendem Grauen steigern.»

Da ist eine Heide, Egdon Heath. Dunkel, wild und fordernd. Dort wachsen Ginster, Heidekraut, Stechpalmen, Dornbüsche und Farne, und nur in Senken einige wenige sturmzerfetzte Bäume. Da sind ein paar Menschen, die in dieser Heide leben, die von dieser Heide gezwungen werden, sich zu behaupten, zu ihr ein Verhältnis zu entwickeln und die so durch die Heide in ihrem Erleben und Denken geprägt werden. Und da kehrt ein Mann, der einige Jahre in Paris gelebt hat, zurück zu den Bewohnern von Egdon Heath, zurück in seine Heimat. Und eine Tragödie beginnt.

Erinnern Sie sich an die großen griechischen Tragödiendichter Aischylos und Sophokles? Bei Sophokles ragen starke Persönlichkeiten, ausgeprägte Individuen aus ihrer Pólis hervor - und genau dies wird ihnen zum Verhängnis. Und bei Aischylos geraten Menschen - kaum vermeidbar - in eine Verfehlung, ein Unrecht, eine Schuld, und begleitet wird dies von der Verblendung, der mangelnden oder gar ganz fehlenden Einsicht, dennoch für das eigene Verhalten verantwortlich zu sein.

Clyms Heimkehr (The Return of the Native) erschien 1878 und ist den ‹Wessex-Romanen› zuzuordnen, die Thomas Hardy selbst «novels of character and environment» nannte. Romane über den Zusammenhang zwischen einzelnen Menschen und ihrer Umgebung? Ein Blick auf Hippolyte Adolphe Taines Milieutheorie liegt hier nahe. Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt, Mensch und Milieu und Mensch und geschichtlichem Zeitpunkt sind so offensichtlich, daß die künstlerische Beschäftigung mit Personen ohne ihre ‹Umgebung› zwar romantisch und idealistisch erscheint, doch beinahe albern wirkt.

Eine Tragödie also. Und aus dem oben Geschilderten ergibt sich, daß der Roman mit einer ausführlichen Beschreibung des Erdausschnitts oder besser der Bühne beginnt, auf der die Tragödie ihren Lauf nehmen wird: Der Egdon Heide. Und wie es sich für eine Tragödie gehört, wird die Leserin gleich zu Beginn auf einen Samstagnachmittag im November eingestimmt: Ein Tag, eine Woche und ein Jahr gehen dem Ende entgegen und bereiten den Boden für eine Entwicklung vor, die genau ein Jahr später in einer Katastrophe kulminieren wird.

Es gibt in diesem Roman nur wenige Haupt- und Nebenpersonen. Clym Yeobright, der Heimkehrer, wächst uns schnell ans Herz. Und die auktoriale Vorstellung von Eustacia Vye, der ‹Königin der Nacht›, wie sie im 7. Kapitel des 1. Buches genannt wird, von Eustacia, wie sie in der Dunkelheit neben einem lodernden Feuer steht und auf einen Liebhaber wartet, Eustacia, die sich dann in Clym verlieben wird, weil sie die Hoffnung hat, mit seiner Hilfe die Heide verlassen und ein aufregendes Leben, vielleicht gar in Paris, führen zu können, kurz, die Einführung von Eustacia in den Roman ist ein solch grandioses Meisterwerk, daß auch ihr sogleich unser Herz zufliegt. Was wird aus Clym und Eustacia? Wir ahnen, was geschehen wird, welche Enttäuschungen sich ergeben werden. Doch dies hier zu schildern, ist unnötig.

Das Interessante an den Nebenpersonen, die aufgrund ihrer Individualitäten und Skurrilitäten keineswegs mit dem ‹klassischen› Chor einer griechischen Tragödie gleichzusetzen sind, ist nun, daß diese immer wieder ganz unfreiwillig und in ‹Kleinigkeiten› zu Handelnden werden und damit die Geschicke der Hauptpersonen in verhängnisvoller Weise beeinflussen. Ist dies das eigentliche Wesen einer Tragödie: Entgegen den eigenen Absichten und Wünschen schicksalshafte Verwicklungen für sich oder andere heraufzubeschwören?

Was macht das Besondere dieses Romans aus, warum überwältigt er uns, immer wieder? Fühlen wir uns vom Leiden der Menschen inniger angesprochen als von - oberflächlichen - Freuden? Sind wir den medial dauerpräsenten Daueroptimismus leid? Können wir lärmenden Dauerfrohsinn nicht mehr ertragen? Arbeiten wir im Geheimen an einer Ästhetik des Scheiterns? Ach!

Thomas Hardy hat das letzte Wort:

«Er hatte jenes Stadium im Leben eines jungen Mannes erreicht, wo man plötzlich die grausame Härte des ganzen menschlichen Daseins erkennt, und wo diese Erkenntnis den Ehrgeiz für eine Weile verstummen läßt.[ …] Manchmal empfand er, daß ihn das Schicksal ungerecht behandelt habe, und zwar in dem Sinne, daß Geborenwerden ein offensichtliches Dilemma bedeutet, und daß der Mensch, anstatt im Leben glanzvoll voranzukommen, vielmehr darauf bedacht sein sollte, sich ohne Schmach daraus zurückzuziehen.»



Erstellt: 30. April 2007 - letzte Überarbeitung: 30. April 2007
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