BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Knut Hamsun: Mysterien»
von Henriette Orheim
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«Sie waren auf den Weg zum Pfarrhof gekommen.
Der Wald schloß sie dunkel und still ein,
nichts war zu hören außer dem Laut ihrer Schritte auf dem harten Weg.
Nach langer Stille sagte Dagny wieder: Hier pflegte er immer zu gehen.
Wer? antwortete Martha.»

«Welchen Gewinn bringt es […],
daß man das Leben aller Poesie, aller Träume,
aller schönen Mystik, aller Lügen beraubt? […]
Wir bewegen uns doch nur durch Symbole vorwärts,
und diese Symbole wechseln wir,
entsprechend unserem Vorwärtsschreiten.»

Da kommt ein junger Mann - Johan Nilsen Nagel - in einem gelben Anzug mit dem Küstenschiff in einen kleinen Ort an der norwegischen Südküste und setzt durch sein exzentrisches Verhalten nicht nur die heile bürgerliche Welt dieses Ortes, sondern auch die Leserin in Erstaunen. Der junge Mann bleibt nur etwa einen Monat, doch dies genügt, um die Welt dieses Ortes durcheinander zu bringen.

In seinem 1892 erschienenen Roman ‹Mysterien› (Mysterier) erfindet Hamsun eine Person, an der er - mit autobiographischen Einschüben aller Art - seine Vorstellung von einer psychologisch orientierten Literatur jenseits des Naturalismus zeigen und ausprobieren möchte. Und das gelingt ihm! Denn dieser seltsame Mensch mit dem Namen Nagel offenbart ein äußerst komplexes, widersprüchliches Seelenleben, ein verworrenes Geflecht von Euphorie, Niedergeschlagenheit, Einsamkeit, Beklommenheit, Spannung, Unruhe und Unzufriedenheit, eine Melange aus Zwangsvorstellungen, Zwangshandlungen und ungerichteten Aggressivitäten, aber auch eine Quelle zarter und edler Empfindungen. Dieser aus den verschiedensten Fragmenten zusammengesetzte Mensch ist und bleibt uns ein Rätsel.

Der junge Mann erfindet nun im Laufe seiner kurzen Anwesenheit in diesem sozialen Raum eine Fülle von Mystifikationen, Provokationen und fingierten Handlungen und Unternehmungen, aber er tut auch was. So kümmert er sich um die sozialen Außenseiter des Städtchens, verliebt sich in eine bereits verlobte Pastorentochter und versucht, von den etablierten Bürgern anerkannt und bewundert zu werden. Er möchte dazu gehören - und gleichzeitig möchte er es nicht. Denn er kritisiert die Bürger ständig. Ihm mißfallen deren geistige Bequemlichkeit, ihr unantastbares Selbstverständnis, ihre Selbstgefälligkeit, ihre Entfremdung, ihr naiver Rationalismus und ihr positivistischer Wissenschaftsglaube. Nagel verlacht das bürgerliche Sinnangebot, er ekelt sich vor der bürgerlichen Bigotterie und Unglaubwürdigkeit. Und was setzt er dagegen? Nun, wie ein Künstler schlechthin, einen schieren Ästhetizismus. Kann das gut gehen?

Heute würden wir sagen, daß Johan Nilsen Nagel ein perfektes ‹Aufmerksamkeitsmanagement› betreibt und alles versucht, ein Publikum zu erobern. Er setzt sich in Szene, macht sich interessant, gibt den Histrione. Doch Obacht: Wird Nagel auf irgendwelchen Ungereimtheiten ertappt, gibt er diese sofort zu und versucht, sich schlechter darzustellen, als es die Leserin glauben möchte. Er macht sich zum Clown, zum Narren der sich gut unterhalten fühlenden Bürger - und er weiß das. Nagel selbst und die aufgewühlte Leserin können zunehmend nicht mehr unterscheiden, was in seinem Verhalten Schwindel, Angeberei, Koketterie oder tiefster Ernst ist.

Die Bürger des Ortes, sein Publikum, werden aus ihm nicht schlau, er selbst aber auch nicht. Das ist ein ganz wunderbarer Kunstgriff Hamsuns. Nagel versucht durch allerlei Allotria sein ‹Ich› so lange wie möglich zu verbergen, bis er es selbst nicht mehr findet: «Ich gebe zu, daß ich ein lebender Widerspruch bin, und ich verstehe das selbst nicht.» Nagel, der Exzentriker, dessen hektisches und assoziatives Denken ihn selbst verwirrt und verstört, sucht immer verzweifelter einen Halt in dieser Welt, zunächst bei Menschen, dann in der Natur, dann wieder bei Menschen, und so weiter. Doch er scheitert mit seinem unbedingten Ästhetizismus, am sozialen Raum - und an sich. Aber niemals in der modernen Literatur ist ein Scheitern so wild, so ungestüm, ja, wie ein ‹Schneesturm› (Bjørnstjerne Bjørnson) geschildert worden.



Erstellt: 30. April 2007 - letzte Überarbeitung: 3. Mai 2007
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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