BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«August Strindberg: Am offnen Meer»
von Henriette Orheim
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«Dabei machte er jedoch Erfahrungen,
die seinen bereits schwachen Glauben
an das Lehrgebäude vollends erschütterten.
Er sah bei den Vorbereitungen ein,
dass nicht die Steine von der Natur geordnet waren,
sondern dass das Gehirn die Erscheinungen ordnete.»

Welch ein literarisches Experiment! Da kommt ein intellektuell überragender, eingebildeter, selbstbewußter und sich selbst gewisser Wissenschaftler mit dem Namen Axel Borg im Auftrag seiner Regierung auf eine weit abseits gelegene Schäre im Inselmeer vor Stockholm, um den dortigen Bewohnern einen Fischfang nach den modernsten wissenschaftlichen Methoden beizubringen. Und am Ende des Romans - sein Amt hat er längst aufgegeben - steht dieser Wissenschaftler vor einem Trümmerhaufen, denn er hat in verzweifelter Weise erfahren müssen, daß das Vertrauen auf eine systematisierende, positivistische Wissenschaft ihn ins Unglück, in eine große Lebenskrise führte, ja, daß er sich mit eben diesem Wissenschaftsglauben nicht nur nicht von den Drangsalen seines inneren Wesens befreien konnte, sondern auch im sozialen Raum der Schärenbewohner zum Mißachteten wurde - und die Liebe einer jungen Frau verlor. Kann es noch schlimmer kommen?

August Strindbergs Roman ‹Am offnen Meer› (I Hafsbandet) erschien 1890 und die Person des Axel Borg wurde von Kritikern alsbald in die Nähe eines Nietzscheanischen ‹Übermenschen› gerückt. Doch diese billige Nähe kann nicht überzeugen. Denn Strindberg spielt ja gerade mit den angeblichen Vorteilen einer Naturwissenschaft, nur um der Leserin zu zeigen, daß alle Antworten dieser Wissenschaft nichts mit unserem Leben zu tun haben. 25 Jahre später schrieb Ludwig Wittgenstein in seinem ‹Tractatus› (6.52): «Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.» Sollte Wittgenstein diesen Roman gelesen haben? Bestimmt.

Welch ein Sujet! Da kommt ein Mann, ein ‹Ausnahmemensch›, der gewohnt ist, sich selbst, die Natur und vor allem seine Mitmenschen zu beeindrucken und zu beherrschen, auf eine kleine Schäre im Nirgendwo. Und die Leserin schaut seinen intellektuellen Spreizungen, seinen circensischen Performanzen, seiner kühlen Klarheit zunächst amüsiert, dann jedoch mit wachsendem Entsetzen zu. Denn was sie sieht, ist nichts weniger als der Untergang eines Individuums, welches sich von seinen sozialen Räumen isoliert, sein eigenes soziales Wesen und seine soziale Bedingtheit verlacht und das glaubt, die ‹Natur› beherrschen und manipulieren zu können.

Und welch ein Widerspruch! Auf der einen Seite schildert Strindberg das existentielle Scheitern eines Mannes, der glaubt, ein kühler, klarer Wissenschaftler zu sein, und auf der anderen Seite entwirft Strindberg ganz wissenschaftlich getönte Bilder von der Natur der Schären, ihrer Flora und ihrer Fauna, die für immer im Gedächtnis der Leserin bleiben. Natürlich spielt auch die wirklich wunderbare Beschreibung des Meeres in diesem Roman eine große Rolle. Und nach dem Verlauf, den der Roman nimmt, ist die Leserin nicht überrascht, wenn Axel Borg - voller Angst, von den Bewohnern der Schäre malträtiert und gehetzt von der Furcht, aufgrund des Verlustes seiner inneren und äußeren Bindungen wahnsinnig zu werden - am Ende sein Boot nimmt und in das offene Meer hinaus segelt.

Doch wer jetzt als Leserin die einfache Formel vom existentiellen Scheitern, das zum Selbstmord führt, aufmacht, sei gewarnt. Über viele Jahre hinweg plante Strindberg, eine Fortsetzung dieses Romans zu schreiben.



Erstellt: 25. April 2007 - letzte Überarbeitung: 10. Mai 2007
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