BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Edith Wharton: Zeit der Unschuld»
von Henriette Orheim
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«Eigentlich lebten sie alle in einer Art Hieroglyphenwelt,
in der man das Wirkliche nie sagte, tat oder auch nur dachte,
sondern nur durch eine Reihe willkürlicher Zeichen darstellte.»

Da ist ein sozialer Raum, die Oberschicht von New York, etwa um 1870 herum. Er wird strukturiert von ‹unerbittlichen› Konventionen und Regeln, die ‹alles zusammenhalten› und die Rauminsassen an Schablonen des Meinens, Fühlens und Handelns fesseln. So ist ‹man› sich in diesem Raum bei der Bewertung der Schicklichkeit sozialer Ereignisse einig, ‹man› weiß, was ‹man› bei welcher Gelegenheit zu ‹fühlen› hat, und ‹man› ist sich im klaren darüber, was wann jeweils von wem zu tun ist: Das ist die eine Seite.

Die andere Seite stellt sich so dar, daß das, was in der einen Seite als Wirklichkeit gehandelt wird, auf der anderen Seite mißachtet werden darf - von Männern. Denn selbstverständlich wird dieser überstrukturierte Raum überformt von Bigotterien und Doppelbödigkeiten. Wenn also Männer von Ehre, Treue und Familie reden, heißt das nicht, daß sie nicht irgendwelche Affären haben dürften, vorausgesetzt, sie ‹gehen diskret vor›. Für Frauen sieht das allerdings ganz anders aus, hier gibt es sehr enge Sozialisationsrituale, die genau die Frauen produzieren, derer das soziale System bedarf.

So fragt sich in Edith Whartons 1920 erschienenem Roman ‹Zeit der Unschuld› (The Age of Innocence) Newland Archer, Held und Hauptfigur, der gerade vor der Verlobung mit May Welland steht: «Was konnten er und sie wirklich voneinander wissen, da es seine Pflicht als ‹anständiger› Mensch war, seine Vergangenheit vor ihr zu verbergen, und ihre Pflicht als heiratsfähiges Mädchen, daß sie keine Vergangenheit zu verbergen hatte?»

In diese Bastion fester Anschauungen hinein platzt nun eine ‹schlechte› Frau, die in Europa ihren Mann verlassen hat und jetzt in New York bei ihren Verwandten leben möchte: Ellen Olenska, eine Kusine von Newlands Braut. Das literarische Sujet der ‹schlechten› Frau fasziniert uns in vielen guten Romanen, wir haben uns ja schon in Keyserlings Wellen darüber gefreut. Das Prinzip der ‹schlechten› Frau besteht einfach darin, daß sie vieles anders, unkonventioneller, unorthodoxer macht, als es die jeweiligen Regeln für Standardsituationen in kommunalen Räumen vorschreiben. Und natürlich sind konventionell erzogene, ja ‹unschuldige› Männer, wie Newland Archer, ganz besonders gefährdet, sich in ‹schlechte› Frauen zu verlieben: «Während er sich ihrem Haus näherte, sann er über all das nach und empfand wieder, auf wie seltsame Weise sie alle seine festen Anschauungen über den Haufen warf

‹Zeit der Unschuld› handelt von den Seelennöten Newland Archers, der natürlich seine May heiraten und auf Ellen ‹verzichten› wird, und der gerade deswegen Zeit seines Lebens - unauffällig - an den Gitterstäben seines engen Ehe-Verlieses rütteln wird. Newland spürt, wie Resignation ein ‹Hauptpfeiler› seines Ehelebens wird, und er verzweifelt an der Aufgabe, seine Frau emanzipieren zu wollen, «die nicht die blasseste Ahnung davon hatte, daß sie nicht frei war. […] Wie sie so dasaß und der Schein der Lampe voll auf ihre reine Stirn fiel, sagte er sich mit heimlichem Entsetzen, daß ihm alle Gedanken hinter dieser Stirn bekannt seien, daß sie ihn in allen noch vor ihnen liegenden Jahren nie durch eine unerwartete Laune, eine neue Idee, eine Schwäche, eine Grausamkeit oder innere Erregung überraschen werde.»

Nun könnte ein postmoderner Leser, falls er überhaupt noch liest und sich nicht lieber bewegte Bilder betrachtet, in sich die Meinung ‹entdecken›, dieser Roman von Edith Wharton habe doch mit der heutigen Zeit und insbesondere mit ihm ‹selbst› nichts zu tun, denn die Konventionen und Regeln, die dort beschrieben würden, gäbe es heute doch gar nicht mehr. Heute sei schließlich jede und jeder frei, zu tun und zu lassen, was ihm beliebe, denn jede und jeder müsse ja ‹selbst› am besten wissen, was zu tun sei. Nun ja, heute sind wir leider umgeben von leichtfertigen und unwesentlichen Meinungen. Und vor allem Leser glauben, eine Meinung haben zu müssen. Leserinnen denken einfach nach. Ein sehr großer Unterschied.
Der ganz großartige Roman ‹Zeit der Unschuld› ist eine ganz großartige Gelegenheit, sich zum einen die Konventionen und Spielregeln seines eigenen sozialen Raumes zu vergegenwärtigen, diese zu prüfen und sich ihnen - gegebenenfalls - zu entziehen. Denn wie ergeht es Newland Archer in der so ‹komplizierten Nutzlosigkeit seines Daseins›? Und wie ergeht es uns?
«Alles, was seine Tage früher ausgefüllt hatte, erschien ihm jetzt wie eine alberne Parodie auf das eigentliche Leben oder wie die Streitereien mittelalterlicher Theologen über metaphysische Begriffe, die niemand verstand.»

«Wie Asche lag ihm der Geschmack des ewigen Einerlei auf der Zunge, und manchmal hatte er das Gefühl, als werde er lebendig unter seiner Zukunft begraben.»

«Wir alle sind einander gleich wie Puppen, die man aus demselben gefalteten Papier ausschneidet. Wir sind wie Schablonen, die man an die Wand malt.»
Und zum anderen lehrt uns Edith Wharton zu verstehen, was eine unbedingte Liebe ausmacht - und warum sie scheitert. Am Ende des Romans sitzt Newland Archer in Paris auf einer Bank vor dem Haus, in dem seine große Liebe im Moment wohnt. Lange denkt er über sein Leben, seine Liebe, seine Pflichten und seine Träume nach, und schaut immer wieder hoch zu den Fenstern des Balkons, hinter denen er sie vermutet. 26 Jahre sind seit der letzten Begegnung mit Ellen Olenska vergangen.

Was wird Newland Archer tun? Wird er zu ihr hinaufgehen? Oder genügt ihm die unschuldige Wirklichkeit seines Sehnens?



Erstellt: 14. Mai 2007 - letzte Überarbeitung: 29. Mai 2007
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