BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Jean Rhys: Sargassomeer»
von Henriette Orheim
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«Alles ist zuviel, dachte ich,
während ich erschöpft hinter ihr her ritt.
Zuviel Blau, zuviel Purpurrot, zuviel Grün.
Die Blumen zu rot, die Berge zu hoch, die Hügel zu nah.
Und die Frau ist eine Fremde.»

Es ist die Zeit kurz nach der Abschaffung der Sklaverei in den englischen Kolonien der Karibik, so um 1830 herum. Und da ist der reiche englische Plantagenbesitzer Mason, der viele Kinder mit verschiedenen ‹schwarzen› Frauen hat. Man nennt diese Kinder ‹weiße Kreolen›, und sie werden weder von der Gemeinschaft der ‹Schwarzen› noch von den weißen Kolonialisten akzeptiert oder geschätzt. Eine ‹weiße Kreolin› ist in der damaligen Zeit ein Nichts. Deswegen sucht der Plantagenbesitzer für eines seiner Kinder, seine Tochter Antoinette, die er eine Zeit lang in einem Kloster untergebracht hat, einen Ehemann - und bietet dreißigtausend Pfund als Mitgift.

Ein junger Verwandter, dessen Name nie genannt wird, kommt aus England in die Karibik in der Hoffnung, mit diesem Geld ein bescheidenes Auskommen finden zu können. Vier Wochen nach seiner Ankunft - in dieser Zeit lag er noch drei Wochen mit Fieber im Bett - heiratet er Antoinette, ohne sie eigentlich kennen gelernt zu haben. Und nach kolonialem Recht übernimmt der junge Mann mit der Heirat die rechtliche und ökonomische Herrschaftsgewalt, während Antoinette jegliches Anrecht auf einen eigenen Besitz oder auf Erbansprüche gegenüber ihrem Vater verliert.

Der junge Engländer zieht nun mit seiner jungen Frau auf einen kleinen Landsitz auf einer der ‹Windward Inseln›. Dort versuchen sie, sich zu lieben und aneinander zu gewöhnen. Doch der junge Mann ist zusehends von der üppigen tropischen Natur der Insel und der leidenschaftlichen und ‹wilden Natur› seiner Frau irritiert. Denn er findet sich in einer Welt, die nicht englisch, sondern matriarchalisch strukturiert ist, und in der soziale Räume völlig anders definiert sind, als er das gewohnt ist. Nach einiger Zeit fühlt er sich von seinen Verwandten mit dieser Ehe betrogen und von den farbigen Bediensteten belauert und ausgelacht. Ein Meer voller Mißverständnisse liegt zwischen ihm und seiner Frau.

Und Antoinette? Sie spürt, wie die Liebe ihres Mannes nach kurzer Zeit nachläßt und wie er grundlos eifersüchtig wird. Sie fühlt sich ihres Lebens beraubt und in die Rolle eines ‹Zombies› gedrängt. Sie verzweifelt, denn sie hat nichts mehr in ihrem Leben, auf das sie sich berufen könnte. Aufgewachsen mit den Mythen ihrer Heimat, bittet sie ihre alte Amme einen Zaubertrank herzustellen, der ihr die Liebe ihres Mannes zurück bringen soll. Doch dieser betrügt sie Wand an Wand mit einem schwarzen Hausmädchen und tut damit das, was er ihr immer grundlos vorwarf.

Als der junge Engländer einen Brief bekommt, in dem ihm geschildert wird, daß Antoinettes Mutter wahnsinnig geworden war und viele Verhältnisse mit ‹Schwarzen› hatte, fühlt er sich in seinem Mißtrauen bestätigt. Er gibt auf, er erträgt die kulturellen Differenzen nicht mehr und hat nur noch den Wunsch, die Insel zu verlassen und in das geordnete England zurückzukehren:
«Ich haßte die Berge und die Hügel, die Flüsse und den Regen. Ich haßte die Sonnenuntergänge von welcher Farbe auch immer, ich haßte die Schönheit des Landes und seine Magie und das Geheimnis, das ich nie erfahren würde. Ich haßte seine Gleichgültigkeit und die Grausamkeit, die Teil seines Zaubers war. Vor allem haßte ich sie. Denn sie gehörte zu der Magie und dem Zauber.»
Seine Frau Antoinette Mason nennt er von nun an Bertha. Bertha?

Und Antoinette? Sie zerbricht, sie wird ‹wahnsinnig›. Die junge, liebende Frau wird zu einer ‹anderen›. Am Ende des Romans ist der junge Engländer zurück in seine Heimat geflohen. Dort sperrt er seine ‹wahnsinnige› Frau in einen Turm seines Hauses und läßt sie von einer Frau mit dem Namen Grace Poole Tag und Nacht bewachen. Grace Poole?

Jean Rhys wurde 1890 auf der Insel Dominica geboren, ihr Vater war ein walisischer Arzt, und ihre Mutter eine ‹weiße Kreolin›. Ihr großartiger und zu Recht gelobter Roman ‹Sargassomeer› (‹Wide Sargasso Sea›) erschien 1966 in einer Zeit, in der man gerade begann, die kulturelle Logik kolonialer und imperialer Unterdrückung zu dekonstruieren. Und, liebe Leserin, natürlich hat es eben bei Ihnen angesichts der von mir herausgestellten Namen ‹Bertha Mason› und ‹Grace Poole› geklickt. Ja, Jean Rhys schreibt in ‹Sargassomeer› eine Art Vorgeschichte zu Charlotte Brontës 1847 erschienenen Roman ‹Jane Eyre›.

Der junge Engländer, der in die Karibik fährt, um für viel Geld eine ‹weiße Kreolin› zu heiraten, der junge Engländer, der nie beim Namen genannt wird und bei Jean Rhys schlicht den weißen Mann, die weiße Rasse symbolisiert, dieser junge Engländer ist Rochester, der Mann, in den sich Jane Eyre verlieben wird, der Mann, den sie heiraten möchte, der Mann, dem am Tag der Eheschließung in der Kirche ein Fremder entgegen treten und behaupten wird, er, Rochester, sei bereits verheiratet und habe seine Frau in einem Raum seines Hauses eingesperrt. Jane Eyre ist entsetzt - und sie flieht, sie läuft davon, sie läuft, bis sie erschöpft nieder sinkt. Doch das ist eine andere Geschichte.

Ja, unsere in Charlotte Brontës ‹Jane Eyre› so selbstverständlich gepflegte Vorstellung von Bertha Mason als einer ‹wilden›, ‹brutalen› und ‹gefährlichen› Frau, die von Rochester ganz offensichtlich völlig zu Recht eingesperrt und all ihrer Rechte beraubt wird, durchkreuzt Jean Rhys in ihrem ‹Sargassomeer› ganz nachhaltig. Kanonisierte Texte bilden eine der stärksten Quellen sozialer und kultureller Kontrolle. Deswegen macht Jean Rhys die verstörenden kulturellen Differenzen, die in ‹Jane Eyre› ausgeblendet werden, sichtbar, indem sie die Leerstellen und die Lücken in Brontës Roman erforscht, zwischen den Zeilen liest und das Unausgesprochene ausspricht. Und Jean Rhys vermeidet es, einfache Fragen nach der Schuld zu beantworten. Rochester und Antoinette (Bertha) zerstören ihre Liebe gleichzeitig und wechselseitig, sie scheitern, und die Ursachen dafür liegen im Aufeinandertreffen von sozialen Räumen mit sich völlig unterscheidenden Konstruktionsgewohnheiten.

Ach ja, das Sargassomeer ist ein stehendes, stagnierendes Gewässer, voller Algen.



Erstellt: 12. Juni 2007 - letzte Überarbeitung: 20. Juni 2007
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