BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Evelyn Waugh: Eine Handvoll Staub»
von Henriette Orheim
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«Am nächsten Tag kamen sie in den Atlantik.
Wuchtige Wolken erhoben sich über dunkle milchig-trübe Tiefen.
Die Wellenkämme waren von Schaum gefleckt, einem kahlen Hügellande vergleichbar,
wo auf den hohen ungeschützten Stellen der Schnee das Tauen überdauert hat.
In der Sonne schimmerten die Wasser bleigrau und schieferfarben,
olivgrün, feldgrau und khaki, wie die Uniformen auf einem Schlachtfeld.
Gleichgültig und stahlhart stand darüber der Himmel
und die dahinjagenden geballten Wolken
ließen nur selten eine halbe Stunde Sonnenschein durch.»

In der von Hans Magnus Enzensberger begründeten ‹Anderen Bibliothek› ist soeben ein - wie immer von Franz Greno besonders schön gestalteter - Band erschienen von Evelyn Waugh: ‹Befremdliche Völker, seltsame Sitten. Expeditionen eines englischen Gentleman›. Als ich dieses Buch las und mich über die vielen trockenen, präzisen und gerade dadurch komischen Beschreibungen und Beobachtungen ziemlich amüsierte, fiel mir ein älteres Buch von Evelyn Waugh (1903 - 1966) ein, das ich vor langer Zeit einmal gelesen hatte und das ich Ihnen hier vorstellen möchte.

Auch bei der Lektüre des 1934 erschienenen Romans ‹Eine Handvoll Staub› (A Handful of Dust) wird offensichtlich, daß Evelyn Waugh ohne seine vielen Reisen nach Afrika oder Südamerika nie so schöne und große Romane hätte schreiben können. Er hat einfach den Blick des Ethnologen, des Ethnographen, des Wirklichkeitsprüfers, ja, des Versuchsleiters im Menschen-Labor, der kühl und klar die seltsamen Riten von Menschen beschreibt, die in sozialen Gemeinschaften zusammenleben und diesem Zusammensein im ununterbrochenen Diskurs einen Sinn verleihen. Waughs Dialoge haben vermutlich viele Schriftsteller beeinflußt, seine Kunst, mit wenigen sprachlichen Andeutungen eine größtmögliche Wirkung zu erzielen, ist unerreicht.

Wenn man sich auf Waughs Blick aus der Distanz erst einmal einläßt, wenn man diesem Blick folgt, dann wird es sehr nett, ja, lustig. Deswegen halten viele Leute Evelyn Waugh für einen Schriftsteller, der satirische Romane schreibt. Ich bin da anderer Meinung. Wenn jemand ziemlich gnadenlos soziale Dramolette des Alltags skizziert und die Wertmaßstäbe privilegierter Sozialschichten in England abbildet und damit bloßstellt, kommt man natürlich mit dem Herbeizaubern des Wortes ‹Satire› aus der Bredouille, der Misslichkeit, ‹erkannt› worden zu sein. Wie angenehm ist es doch da, Reiseliteratur zu lesen und von ‹befremdlichen Völkern und seltsamen Sitten› zu hören!

Doch bevor es auch in ‹Eine Handvoll Staub› auf Reisen geht, lernen wir erst einmal ein junges englisches Paar kennen, Brenda und Tony: «Dank Brendas hübschen Manieren und Tonys Vernunft war es nicht verwunderlich, daß ihre Freunde sie als ein Paar bezeichneten, das mit ganz besonderem Erfolg das Problem, gut miteinander auszukommen, gelöst hatte

Kommen sie gut miteinander aus? Wirklich? Tja, eigentlich schildert der Roman die Geschichte einer Desillusionierung. Dabei ist der Plot im ersten Teil des Romans schlicht: Brenda langweilt sich in ihrer Ehe, nimmt sich einen uninteressanten Liebhaber und entfernt sich - angeblich studiert sie Volkswirtschaft in London - immer mehr von Tony. Dieser wiederum ist rührend um sie besorgt, erfüllt ihr jeden Wunsch, ohne zu ahnen, was gespielt wird, willigt gar in eine Scheidung ein, bei der er ‹die Schuld› auf sich nimmt. Aber dann wird alles anders. Und die Reise beginnt. Seine Reise.

Was Evelyn Waugh in seinen Büchern beschreibt, ist schlicht das Authentische selbst. Die Dialoge sind mitten aus dem Leben - hier der englischen Oberschicht um 1930 - gegriffen, sie sind echt, ungeschönt. Selbst wir können noch 70 Jahre später gelegentlich ‹mitreden›, haben eine nahe liegende Antwort parat. Aber warum wirken die Dialoge dann so komisch? Ist unsere in sozialen Ritualen, Diskursen und Dialogen eingeklemmte Existenz an sich so komisch? Oder finden wir sie erst dann komisch, wenn wir eine gehörige Distanz zu uns und unserem unermüdlichen Diskurrieren gefunden haben?

Evelyn Waugh war von klein auf von Schriftstellern und Literaten umgeben, denn sein Vater war nicht nur Schriftsteller und Rezensent, sondern auch Geschäftsführer eines Verlages, der unter anderem Thackeray und Charles Dickens verlegte und damit sehr viel Geld verdiente. Es ist klar, daß Evelyn Waugh bei diesem Hintergrund - auch sein Bruder betätigte sich als Autor - eine frühe Abneigung gegen literarische Zirkel und insbesondere gegen Dickens entwickeln mußte und diesen auf irgendeine Art in seinen Roman ‹Eine Handvoll Staub› einbauen würde. Aber auf welche Art und Weise Charles Dickens am Ende des Romans eine wichtige Rolle für Tony spielen wird, das werden Sie, liebe Leserin, niemals erraten. Überraschung.



Erstellt: 12. Juni 2007 - letzte Überarbeitung: 20. Juni 2007
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