BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Neil Gaiman: Neverwhere»
von Tom B.
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Richard Mayhew: Can I ask you a question?
The Marquis the Carabas: No. You don't ask any questions.
You don't get any answers.
You don't stray from the path.
You don't even think about what's happening to you right now.
Got it?
Richard Mayhew: Excuse me. I know this is a personal question,
but are you clinically insane?
The Marquis the Carabas: It's very unlikely. Why?
Richard Mayhew: Well, one of us must be.
(Neverwhere TV Series)

Die fantastische Literatur hat sich in der letzten Dekade erfolgreich aus dem trivialen Image befreien können, das sie einseitig als die Fortführung von billigen Heftchen aus der Bahnhofsbuchhandlung festlegte. Zwar sind immer noch erstaunlich viele flache Werke zu finden, doch die Anzahl an ‹Perlen› steigt beständig. Einer der ersten Vertreter dieser postmodernen Fantasy-Literatur auf der englischen Seite des Kanals war Neil Gaiman. Nach seinem Erfolg mit dem Horror- und Mythencomic ‹Sandman›, bekam er das Angebot, eine Serie für die BBC zu schreiben. Daraus wurde ‹Neverwhere› (Niemalsland), das 1997 als Roman erschien und im Mittelpunkt dieser kleinen Betrachtung stehen soll.

In ‹Neverwhere› begleiten wir Richard Mayhew, einen jungen Schotten, der in London einer regulären Beschäftigung nachgeht und eine Beziehung mit einer äußerst karriere- und weltbewußten jungen Frau führt, die ihn gerne bis zur Unterdrückung bestimmt. Das tut sie auch bis zu einem entscheidenden Abend, an dem eine junge blutende Frau aus einer Tür in einer Hauswand vor den beiden auf die Straße fällt, und Richard aus einem Impuls heraus seine Freundin zu ihrem Geschäftsessen und damit zum Teufel schickt, während er die junge Frau nach Hause bringt und versorgt. Dies ist der Anfang vom Ende seiner normalirdischen Existenz, denn die junge Frau spricht mit Ratten und schickt Richard zum Marquis the Carabas, der seine intertextuelle Ähnlichkeit mit dem gestiefelten Kater sehr genießt, und damit in die Welt von ‹London Below›.

Gaiman versetzt den Helden in eine Parallelwelt neben der alltäglichen. Richard Mayhew fällt buchstäblich durch die Spalten, die Risse unserer Realität und kommt in einer magischen Welt an, in der alles lapidare metaphysisch wird. Das zeigt sich besonders an der Umdefinition der größten Londoner Alltäglichkeiten: der U-Bahn Stationen und historischen Gebäude. Old Bailey, dem alten Londoner Gerichtsgebäude, steht Old Bailey, der etwas grummelige, gutherzige Mann gegenüber, der lieber auf den Dächern wohnt und Tauben brät, als in den Kanälen der Stadt zu hausen, in denen man dann den Earl von Earl's Court oder aber auch den Floating Market findet, der auch mal schlicht auf der HMS Belfast mitten auf der Themse stattfindet.

Und damit ist man dann auch schon beim Kern, der dieses Buch unwiderstehlich macht. Unser Alltag erscheint uns real und so selbstverständlich, daß wir ihn kaum noch wahrnehmen. Doch was ist, wenn wir eine andere, in diesem Fall magische Perspektive einnehmen? Die Magie von ‹London Below› liegt darin, daß das Alltägliche verschwindet und doch faßbar bleibt. Der Leser, sofern er die Geographie Londons kennt, hat einen Kontext, einen Rahmen für alle Begriffe, die in dem Roman erscheinen, doch überwindet Neil Gaiman - ähnlich wie Lewis Carroll in seinen ‹Alice›-Büchern - dieses Bezugssystem, in dem er teilweise die Begriffe wörtlich nimmt, sie anthropomorphisiert oder schlicht in einen anderen Kontext setzt. So entsteht der Engel Islington, das Kloster der Black Friars, die Nightsbridge oder aber der Earl mit seinem Court. Die Figuren sind authentisch und im Kontext des magischen ‹London Below› komplett logisch, so daß der Leser nicht den Eindruck erhält, daß irgendetwas an ihnen fiktional sein könnte. Dies zeigt nicht nur die handwerkliche Kunst von Neil Gaiman, sondern dies ist auch die Basis für die Faszination, die ‹Neverwhere› weckt.

Das Eintauchen in eine Realität, die so direkt neben unserer alltäglichen liegt, daß beide regelmäßig in Kontakt miteinander treten, unterhält den Leser nicht nur, sondern öffnet ihm auch die Augen bezüglich der Frage, ob die Wahrnehmung unseres Alltags und unserer ‹Wirklichkeit› nicht auch nur eine bestimmte Fiktion ist. Die Magie von ‹London Below› liegt also nicht nur im phantastischen, sondern eben auch in der Plausibilität, mit der seine Existenz geschildert wird. Neil Gaiman, einer der bekanntesten ‹postmodernen› Autoren, überschreitet in seinem Roman ‹Neverwhere› die Grenze ins Fantastische, bleibt aber textuell immer transparent, da er seine fantastische Gegenwelt als Alternative öffnet und nicht - wie wir das in vielen klassischen Fantasywerken finden - als abgeschlossenes Konstrukt. Die Gegenwelt ‹London Below› bekommt ihre Tiefe eben dadurch, daß sie direkt in und neben der ‹normalen Welt› existiert. Und damit stellt sich die erfreuliche Frage, ob wir nicht gerade durch die Beschreibung einer Welt des Phantastischen neue Ansätze für das Verstehen unserer eigenen Realität und nachdenkenswerte Hinweise auf die Beschränktheit und Unvollkommenheit unserer Wahrnehmungen und Interpretationen finden können.



Erstellt: 8. Juli 2007 - letzte Überarbeitung: 9. Juli 2007
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