BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Saul Bellow: Herzog»
von Henriette Orheim
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«Ich will nichts mehr dazu beitragen,
die Absurditäten des Lebens zu verwirklichen.
Das geschieht auch ohne meine besondere Hilfe
schon in genügendem Maße.»

Moses Elkanah Herzog, etwa 45 Jahre alt, aufgewachsen in Chicago, Professor für Philosophie und Geschichte in New York, berühmt geworden durch sein Buch ‹Romantik und Christentum›, sitzt in einem verfallenen Landhaus in Massachusetts und blickt zurück auf die vergangenen Monate: Seine zweite Frau hat sich vor kurzem von ihm scheiden lassen, nachdem sie ihn schon längere Zeit mit einem ihm nah Bekannten betrog; die Arbeit am zweiten Band seines Buches kommt nicht voran; in seinen letzten Vorlesungen war er unkonzentriert, wußte manchmal nicht mehr, was er sagen sollte, und schwieg zum Erstaunen der Studenten minutenlang; zwischen Chicago und New York war er ganz und gar sinnlos hin und her gefahren und hatte seinen Arzt, seinen Anwalt, Teile seiner Familie, seine erste Frau, seine Kinder und andere Leute besucht; und er wurde in einen Verkehrsunfall verwickelt und von der Polizei verhaftet, weil er ohne Waffenschein die Pistole seines längst verstorbenen Vaters bei sich trug.

Und während dieser ganzen Zeit, die er nun allein in diesem Landhaus Revue passieren läßt, «sah sich Herzog von der Notwendigkeit gepackt, zu erläutern, auszufechten, zu rechtfertigen, ins rechte Licht zu rücken, zu klären, gutzumachen.» Denn seine zweite Frau und sein früherer Freund «hatten das Gerücht verbreitet, daß er einen geistigen Zusammenbruch erlitten habe. Stimmte das?»

Saul Bellows 1964 erschienener Roman ‹Herzog› zeigt den Konflikt eines liberalen und klugen Intellektuellen mit einer Welt, die mit den von Freunden und Bekannten allzeit und ungefragt angebotenen einfachen Sinnsprüchen und Lebensregeln nicht mehr zu bewältigen ist. Und dieser Roman zeigt darüber hinaus eine faszinierende Möglichkeit mit dem existentiellen Scheitern umzugehen - Briefe zu schreiben, und diese nie oder fast nie abzuschicken:

«Was können jedoch denkende Menschen und Humanisten anderes tun als sich um passende Wörter bemühen? Nimm mich als Beispiel. Ich habe aufs Geratewohl in alle Himmelsrichtungen Briefe geschrieben. Wieder Wörter. Ich suche die Wirklichkeit mit Hilfe der Sprache. Vielleicht möchte ich alles in Sprache verwandeln. […] Ich lege mein ganzes Herz in diese Konstruktionen. Aber es sind eben Konstruktionen.»

Ja, und das ist der Grund, warum ich Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, dieses Buch ‹ans Herz lege›: Wie Herzog hier Briefe an alle möglichen Wesen schreibt (zum Beispiel an Gott, Nietzsche, Heidegger, an Politiker, seine Familie, seine Kinder, an Lebende und Tote), wie Herzog sich hier Gedanken abringt über nicht nur alle Bereiche seines Lebens, sondern auch über Psychoanalyse, Psychologie, Soziologie, Politik, und wie aggressiv Herzog diese Briefe, Briefbruchstücke, ja Brieffetzen formuliert, das ist - umwerfend, fulminant, brillant, grandios, hinreißend, kurz, das ist überwältigend.

Am Ende des großartigen Romans hat sich Herzog mit Hilfe seiner vielen Briefe am eigenen Schopf aus der Enge seines Scheiterns heraus gezogen und sagt sich, «vielleicht sollte er aufhören, Briefe zu schreiben. Ja, das war tatsächlich das nächste. Die Erkenntnis, daß er mit diesen Briefen abgeschlossen hatte. Was immer ihn in den letzten Monaten befallen hatte, dieser verwunschene Zustand schien nun abzuklingen, sich zu verflüchtigen



Erstellt: 7. Oktober 2007 - letzte Überarbeitung: 7. Oktober 2007
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