BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Hjalmar Söderberg: Verirrungen»
von Henriette Orheim
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«Es war einer der letzten Tage im April,
ein unruhiger Tag mit meerblauem Himmel und
großen, segelnden Wolkenscharen,
ein launisch lächelnder Tag,
in rascher Folge abwechselnd sonnig und bedeckt
und mit scharfen Windböen von Osten,
von den Schären, vom Meer»

Tomas Weber, der zwanzigjährige Held dieses kleinen Romans, wird uns im Laufe der Ereignisse nicht sympathischer, dennoch mögen wir ihn, umfaßt ihn doch eine unerklärliche Melancholie. Ja, Tomas wirkt seltsam apathisch und scheint selten in der Lage zu sein, eine Entscheidung zu treffen. So spielt er den Dandy, kauft sich rote Handschuhe zu seinem dunkelblauen Frühlingsmantel, verführt das Ladenmädchen, welches ihm die roten Handschuhe verkaufte, verführt eine Bürgertochter, und versucht nicht einmal, sich für eine der beiden Frauen zu entscheiden: Er driftet durch die Tage des frühlingshaften Stockholm. Am Ende des Romans, in einer halbherzig geführten Selbsterkenntnisdebatte, entschließt er sich, aus seinem Scheitern heraus ein ‹neues Leben› zu beginnen. Doch:

«Was nützt es dir, lange zu leben, wenn dein Eifer, besser zu werden, von so kurzer Dauer und so geringer Wirkung ist?»

Ist das rührend? Ach ja, sehr, weil es so jung, so jugendlich, so unbekümmert ist:

«Er verstand nichts in seinem Leben, jetzt, da er daran zurückdachte. Es war, wie wenn man träumt: Man geht straßauf, straßab, als hätte man etwas Wichtiges zu erledigen, man geht in fremden Häusern ein und aus, man nimmt an den lächerlichsten und sinnlosesten Auftritten teil, man findet alles natürlich und in Ordnung und läßt sich durch nichts verwundern. Dann wacht man auf und versucht sich daran zu erinnern, was man geträumt hat, und sucht nach irgendeiner Bedeutung darin und findet nichts als Dummheiten ohne Sinn und Zusammenhang. Wie sehnte er sich danach, aufzuwachen, ein für allemal!»

Ganz ehrlich, liebe Freunde und Freundinnen der ‹Buchgeschichten›, kann man als junger Mensch die Kluft zwischen einem wünschenswerten und ewig ersehnten Eigenleben und einem sozial zugerichteten und hin- und hergezogenen – und damit erzogenen – Textbündel schöner und besser ausdrücken? Ach!

Hjalmar Söderbergs (1869 - 1941) Erstlingswerk «Verirrungen» (Förvillelser) erschien 1895 und führte wegen einiger vermeintlich ‹erotischer› Szenen zu einer vehementen ‹Sittlichkeitsdebatte› in Schweden, die erst zur Ruhe kam, als sieben prominente schwedische Autoren und Autorinnen, darunter Ellen Key, den Roman verteidigten.

Söderberg hat die Stimmung des Fin de Siècle mit der Person des labilen und unglückseligen Tomas Weber ganz wunderbar eingefangen. Und angesichts drastischer neo-realistischer Beschreibungen in der postmodernen Literatur bezaubert uns der leichte, spielerische Tonfall, treffen uns die pointillistisch aufgespießten Miniaturen, bewegen uns die impressionistischen Skizzen von Personen und Orten und ergreift uns die den ganzen Roman überlagernde Liebessehnsucht.

Tomas Weber, unser Held, steht mit seinen erst 20 Jahren vor einer Illusionslosigkeit und Resignation, die uns – gerade heute – nicht gleichgültig läßt.



Erstellt: 27. März 2008 – letzte Überarbeitung: 27. März 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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