BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Nancy Mitford: Englische Liebschaften»
von Henriette Orheim
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«Immer waren die Radletts entweder auf dem Gipfel der Glückseligkeit,
oder sie versanken in den schwarzen Fluten der Verzweiflung;
nie bewegten sich ihre Gefühle auf einer mittleren Ebene,
sie liebten oder sie haßten, sie lachten oder sie weinten,
sie lebten in einer Welt der Superlative.»

Welch eine Familie, die Radletts auf Alconleigh! Da sind zunächst die Eltern, die meist geistesabwesende Tante Sadie und der Polter- und Rappelkopf Onkel Matthew, der alles Fremde und insbesondere die Hunnen (die Deutschen) haßt. Sadie und Matthew selbst sind völlig ungebildet und dementsprechend verachten sie ‹Bildung›. Und da sind die sieben Kinder, die konsequenterweise nie eine Schule von innen sehen, sondern von ständig wechselnden Gouvernanten und Hauslehrern nur soeben das Lesen und Schreiben, das Reiten und Jagen, das Klavierspielen und ein wenig Französisch erlernen. Wobei es in diesem Roman nur um die Geschichte von Louisa, Linda, Jassy und Matt geht, die anderen drei Geschwister sind noch zu jung, um eine Rolle zu spielen. Na ja, eigentlich ist dieser Roman die Geschichte Lindas.

Und da ist Fanny, die Erzählerin, die regelmäßig in den Weihnachtsferien zu Besuch nach Alconleigh kommt. Sie ist so alt wie Linda. Natürlich hat auch Fanny eine Mutter und einen Vater, doch ihre Mutter sah bei Fannys Geburt, da war sie 19, nicht ein, daß sie sich so jung an ein Kind fesseln sollte. Sie brachte Fanny bei einer Schwester von Tante Sadie unter und zog von da an mit verschiedenen Männern durch Europa. Deswegen nennt man sie bei den Radletts die ‹Hopse›. Und Fannys Vater? Na ja. Der ist auch irgendwo. Immerhin schicken Fannys Eltern zu Weihnachten teure Geschenke nach Alconleigh. Und was sagen die Radlett-Kinder zu Fannys Schicksal? «Du hast ein Glück mit Deinen verruchten Eltern!»

Louisa, Linda, Jassy und Matt treffen sich regelmäßig zu Versammlungen der ‹Hons› (das ist die Geheimgesellschaft der ‹honorigen› Radletts›) in einem unbenutzten, dunklen und engen Wäscheschrank, der aber als einziger Aufenthaltsort im gesamten Anwesen einigermaßen geheizt ist. Und dort, im Schrank, rätseln die Kinder über die Welt der Erwachsenen und erfinden ihre eigene. Ganz und gar ungebildet bilden sie sich selber. Manchmal lesen sie in einer Art Anfall zig Bücher aus der riesigen Bibliothek von Alconleigh, um dann wieder in eine allgemeine Lethargie zu rutschen. Dabei werden sie selbst erwachsen; ungebildet und ahnungslos treffen sie Menschen, die gebildet sind und Ahnung haben. Und so geraten die Radlett-Kinder in Liebschaften, in Ehen, in Turbulenzen.

Nancy Mitford (1904-1973) schrieb den Roman ‹Englische Liebschaften› mit leichter Hand in weniger als drei Monaten. Er erschien 1945 in London, und den Titel (‹The Pursuit of Love›) wählte Evelyn Waugh. Dieses wunderbar geistreiche und witzige Buch, in dem Nancy Mitford viele biographische Daten, Ereignisse und Skurrilitäten ihrer eigenen Familie einarbeitete, führt uns in ein heiteres und sonnenbeschienenes Märchenland, obwohl es in der Zeit vor dem II. Weltkrieg spielt und die Handlung bis in diesen hinein reicht. Wer immer noch nicht weiß, was eigentlich ‹Britischer Humor›, was ‹Witz›, was ‹teasing› ist, der sollte dieses Buch lesen. Wer es bereits weiß, der wird dieses Buch lieben.



Erstellt: 2. Mai 2008 – letzte Überarbeitung: 6. Mai 2008
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