BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«George Eliot: Middlemarch»
von Henriette Orheim
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«Pflegt nicht ein winziger Fleck dicht vor unserem Auge
die ganze Herrlichkeit der Welt auszulöschen
und nur einen Rand übrig zu lassen,
mit dem wir den Fleck wahrnehmen?
Ich kenne keinen lästigeren Fleck als das eigene Ich.»

«Begriffe und Skrupeln waren wie verstreute Nadeln:
man wagte ihretwegen nirgends hinzutreten.»
(George Eliot)

‹Middlemarch - Eine Studie des Provinzlebens› (Middlemarch. A Study of Provincial Life) erschien 1872 und ist George Eliots (eigentlich Mary Ann Evans, 1819-1880) längster, schönster und bedeutendster Roman. ‹Middlemarch› ist eine kleine, erfundene Stadt in Mittelengland, die – etwa um 1830 herum – von allerlei politischen, gesellschaftlichen, moralischen und wirtschaftlichen Aufregungen und Veränderungen berührt wird. Natürlich geht es auch darum, wer wen heiratet. Aber eigentlich geht es um das Beschreiben von sozialen Folien, auf denen die verschiedenen Hauptpersonen agieren. Und in eben der Beschreibung dieser Folien, im Aufzeichnen der Sagbarkeiten, Zulässigkeiten und Präokkupationen in den verschiedenen sozialen Räumen und den unterschiedlichen Familiensystemen zeigt sich George Eliots ‹Middlemarch› als wahres Meisterwerk des Realismus, das sich immer wieder mit großer Freude lesen läßt.

Denn die Sagbarkeiten, also die vermeintlichen Argumente, Weltsichten und Überzeugungen der verschiedenen Hauptpersonen, kommen uns so vertraut vor. Wie kann das sein? Wie kann uns ein realistischer Roman nach 140 Jahren noch berühren? Nun, indem George Eliot die Personen ihrer Kleinstadt so schildert, daß sie für uns lebendig werden, daß wir ihre Entwicklungsaufgaben und ihre psychologischen Krücken verstehen.

Schauen wir beispielhaft auf Rosamond Vincy: «Sie gehörte zu den Frauen, die ständig in der Vorstellung leben, daß jeder Mann, der mit ihnen zusammentrifft, sie einer anderen Frau vorziehen würde.» Wie wird sie sich also geben, wenn sie mit einem ihr fremden Mann zusammentrifft? So: «Sie drehte ihren langen Hals ein wenig zur Seite und berührte mit der erhobenen Hand ihre wunderbaren Flechten – eine Geste, die sie oft unbewußt machte und die so reizend war wie irgendeine Bewegung eines jungen Kätzchens mit seiner Pfote.» Oder: «Jede Sehne, jeder Muskel Rosamonds richtete sich aus nach dem Bewußtsein, daß jemand sie anschaute. Sie war von Natur eine Darstellerin solcher Rollen, denen ihre Körperlichkeit entgegenkam: sie spielte sogar ihren eigenen Charakter, und zwar so gut, daß sie nicht einmal merkte, wie genau er ihrem eigenen entsprach.»

Natürlich verdreht sie dem jungen Tertius Lydgate, der mit hohen wissenschaftlichen und sozialen Plänen als Arzt nach ‹Middlemarch› kommt, so den Kopf, daß er sie zu heiraten wünscht. Und dann? Wir werden es sehen, denn die Beziehung zwischen Rosamond und Lydgate ist ein wesentlicher Strang dieses wunderbaren Romans. Und was sagen die Honoratioren von Middlemarch über Tertius Lydgate? Etwa dies: «Ich sage, die unehrenhafteste Handlungsweise, deren sich ein Mann schuldig machen kann, besteht darin, bei seinen Berufskollegen mit Neuerungen einzudringen, die eine Schmähung ihrer altehrwürdigen Gebräuche darstellen.» Ach ja, wie vertraut ist uns diese Grenzziehungs-Suada, die – vergeblich – dabei helfen soll, soziale Räume ein für allemal abzuschotten gegen das doch immer wieder eindringen wollende Fremde. Eine andere kunstvoll eingewobene Geschichte in diesem Roman handelt von Dorothea Brooke, einer klugen, empfindsamen und schwärmerischen Frau, die einen alten Gelehrten – Mr. Causabon – heiratet, um diesen bei seinem geplanten Monumentalwerk der Religionsgeschichte zu unterstützen. Schon in den ersten Diskursen zwischen Dorothea und Mr. Causabon ahnen wir, was hier alles nicht stimmt und welchen Tort sich Dorothea mit dieser Beziehung auferlegen wird. Ach, wie rührend ist es, jemanden zu erleben, der voller Begeisterung in eine selbstauferlegte Aufgabe hinein schlittert, ohne sich die wichtigste Hauptfrage der postmodernen Jetztzeit ‹Und was hab ich davon?› zu stellen. Dorothea lieben wir schon nach wenigen Seiten: «Sie zog aus Worten und Stimmungen nicht voreiliger ihre Schlüsse als andere junge Damen ihres Alters. Zeichen sind nur kleine meßbare Dinge, aber ihrer Deutung sind keine Grenzen gesetzt, und bei Mädchen von gefühlvoller, feuriger Wesensart hat jedes Zeichen die Fähigkeit, einen ganzen Himmel von Wunder, Hoffnung, Glauben heraufzubeschwören, der seine Färbung nur von einem fingerhutgroßen Stück Materie empfängt, die in Form von tatsächlichem Wissen fein verteilt auf ihm liegt.»

Neben den Paaren Dorothea und Causabon und Rosamond und Lydgate schildert George Eliot noch eine Fülle von weiteren Personen, die – wie in einer griechischen Tragödie den allfälligen Chor bildend – alle Ereignisse und Begebenheiten in ‹Middlemarch› sprachlich einpacken, ablegen und ihnen erst damit ihren Sinn verleihen. Da gibt es noch die alteingesessenen Ärzte, einen eher skrupellosen Bankier, einen sehr alten aber reichen Mann, der von hoffnungsvollen Erben umschwärmt wird, die nur auf seinen Tod warten, und viele weitere Familien.

Was uns bei dieser Studie des Provinzlebens heute so in Erstaunen versetzt, ist die so treffsichere und trennscharfe Skizzierung von Personen, von sozialen Standards und vom Diskurs dieser Personen auf der Folie dieser Standards. Es gibt eine Überfülle von klugen Beobachtungen, die uns nicht nur verblüffen, sondern auch schmunzeln lassen, etwa: «Im ganzen ließ sich sagen, daß glühendes Mitgefühl den tugendhaften Sinn stets bewog, eine liebe Nachbarin zu ihrem eigenen Heil unglücklich zu machen.» Oder: «Die Leute waren so lächerlich mit ihren Illusionen, trugen, ohne es zu merken, ihre Narrenkappen und hielten ihre eigenen falschen Aussagen für undurchsichtig, die der anderen dagegen für leicht durchschaubar, glaubten, sie selbst bildeten überall die Ausnahme.»

Auch die in Liebesbeziehungen so häufigen und oft schmerzhaften Doppelbindungen werden vor unseren Augen ausgebreitet, obwohl das Wort für eben diese Feinheit im sozialen Umgang vor 140 Jahren noch gar nicht erfunden war: «Möchtest Du zur Farnesina? Es befinden sich dort Fresken, die die meisten Leute für sehenswert halten.» Ist das nicht eine großartige Formulierung? Ist das nicht die hohe Schule der ehelichen Doppelbindungsqual? Ach, arme Dorothea!

Lieber Leser, liebe Leserin, wenn Sie ‹Stolz und Vorurteil› von Jane Austen mögen und ‹Jane Eyre› von Charlotte Brontë lieben, dann werden Sie die Romane von George Eliot hinreißend finden. Lassen sie sich entführen.



Erstellt: 21. Mai 2008 – letzte Überarbeitung: 27. Mai 2008
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