BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Joaquim Maria Machado de Assis: Tagebuch des Abschieds»
von Henriette Orheim
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«All diese wie auch andere Einzelheiten vernahm ich mit Interesse.
Immer schon hat es mich gereizt zu beobachten,
wie Charaktere sich ausdrücken und komponiert sind,
und nicht ungern betrachte ich oft
die Anordnung der Ereignisse selbst.
Ich genieße es, zu schauen, vorauszuschauen
und auch meine Schlüsse zu ziehen.»

«Das Unvollkommene ist in dieser Welt etwas Notwendiges.»

Welch großartiger, welch seltsamer Roman. Eigentlich geschieht in diesem Buch nichts von Bedeutung, es gibt keine aufregende Handlung, keine banale Suche nach dem Täter, keine plakativ dramatisierte Fiktion, nein, und doch konstruiert der Brasilianer Machado des Assis in scheinbar schlichte und überaus alltägliche Begebenheiten und Geschehnisse geheimnisvolle Spannungsbögen hinein, deren innere Bewegtheit so beiläufig daher kommt, daß man schon genau hinsehen muß.

«Soeben, als ich durch die Rua da Glória kam, sind mir sieben Kinder begegnet, Knaben und Mädchen, größere und kleinere, die Hand in Hand in einer Reihe gingen. Ihr Alter, ihr Lachen und ihre Munterkeit fielen mir ins Auge, und ich blieb auf dem Bürgersteig stehen, sie anzuschauen. Sie waren alle so voller Anmut, schienen so ein Herz und eine Seele, daß ich vor lauter Wohlgefallen zu lachen begann.»

Dieser Roman konnte nur in einer Tagebuchform geschrieben werden, und all die verschiedenen geschilderten kleinen Episoden, Erlebnisse und Ereignisse, die Plaudereien mit sich und anderen, die Reflexionen und Nachdenkereien, verhandeln doch etwas Höheres, Größeres, sie weisen über den banalen Alltag hinaus, und genau deswegen ist dieser wunderbare Roman ein Labsal, eine Erquickung, ja ein Hochgenuß, nicht nur, wenn man sich kurz überlegt, was es sonst noch so zu lesen gäbe. Wie kann das sein?

Nun, im Mittelpunkt des im Jahr 1888 spielenden Buches, übrigens dem Jahr, in dem in Brasilien – als letztem ‹zivilisierten› Land – die Sklaverei abgeschafft wurde, steht ein pensionierter Diplomat, der nach vielen Jahren im Ausland in seine Heimatstadt Rio de Janeiro zurückkehrt, um dort in Frieden zu leben. Es gibt nur wenige Menschen, mit denen er Kontakt hat, aber sein Blick auf eben diese, sein Blick auf die Welt, sein Blick auf sich selbst, ist gekennzeichnet durch eine große Achtsamkeit und Bescheidenheit. Er hat seinen Frieden mit der Welt gemacht (eine Vorstellung, die angesichts der anspruchsunverschämten, dauerempörten und spektaklistisch verdorbenen Insassen der Moderne 2.1 kaum glaubhaft erscheint) und wünscht sich diesen Frieden auch für seine Mitmenschen. Der alte Diplomat schaut nicht in Mißmut, sondern in Liebe auf die Welt, denn er hat keine Forderungen an sie. Er ist wohlwollend und respektvoll im Umgang mit sich selbst und mit allem, was außerhalb von ihm ist. So läßt er mitunter Äußerungen, die ihm schon auf der Zunge liegen, fort, wenn er meint, er könne jemanden damit verletzen. Ja, und das ist ganz erstaunlich, er ist einverstanden mit dem, was geschieht und was ist, unabhängig von seinen Wünschen und Haltungen, unabhängig von seinem Ego. Er mißt seinem Ego keine Sonderstellung zu – und betrachtet amüsiert die Ego-Verrenkungen seiner Mitmenschen.

Und ganz schwerelos verhandelt werden grundlegende Fragen über die menschliche Natur, die Kinderlosigkeit, das Verhältnis der Geschlechter, Gut und Böse, Bildung, Literatur und Kunst, und naturgemäß Fragen des Alters und Alterns:

«Ich habe eine Ehefrau, die in Wien unter der Erde liegt, und keines meiner Kinder ist aus der Wiege des Nichts hervorgegangen. Ich bin allein, ganz und gar allein. Die Geräusche von draußen, Wagen, Zugtiere, Menschen, Klingeln und Pfiffe, nichts davon lebt für mich. Allenfalls meine Wanduhr, wenn sie die Stunden schlägt, scheint irgendetwas zu sagen – doch sagt sie es langsam, knapp und düster. Ich selbst komme mir beim Nachlesen dieser letzten Zeilen wie ein Totengräber vor.»

In diesem kurzen Zitat entdecken wir nicht nur, daß es in diesem Roman leise zu geht, denn kein Lärmen und Plärren stört uns, nein, wir sehen auch, mit welchem Wortwitz, mit welcher Skepsis und mit welch ironischen Sprachspielereien uns Machado des Assis immer wieder hinters Licht führt. Und deswegen werden wir unmerklich immer weiter und tiefer in die vielen kleinen Geschichten und Reflexionen des Romans hineingezogen, bis wir erstaunt feststellen, daß wir plötzlich ein großes Interesse daran entwickelt haben, was denn nun aus einer ‹jungen Witwe› werden soll, die eine Rolle in diesem Buch spielt.

Joaquim Maria Machado de Assis' Roman ‹Tagebuch des Abschieds› (Memorial de Aires) erschien 1908. Es war sein letztes Buch, denn er starb im gleichen Jahr. In diesem Jahr, heute, im Jahr des Herrn 2009, ist eine wunderbare und von Berthold Zilly hervorragend übersetzte und kommentierte Neuausgabe erschienen, bei der ‹Friedenauer Presse› in Berlin. Ich lege sie Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, ans Herz.



Erstellt: 11. Juni 2009 – letzte Überarbeitung: 24. Juni 2009
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