BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Thomas Bernhard: Der Wahrheit auf der Spur»
von Henriette Orheim
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ANDRÉ MÜLLER: Wer bleibt denn da überhaupt übrig,
den Sie nicht für einen Idioten halten?
THOMAS BERNHARD: Na keiner, das ist es ja eben.

ARMIN EICHHOLZ: […] Jetzt wird's Zeit,
Ihnen für das Gespräch zu danken ...
THOMAS BERNHARD: Gespräch nennen Sie das?

Ach, Thomas Bernhard! Die Redaktion des ‹Skepsis-Reservates› kennt, liebt und verehrt ihn und seine Theaterstücke und Prosawerke. Wir konnten uns nur nie einigen, welches Werk wir in einer ‹Buchgeschichte› vorstellen sollten. Und nun, da er schon über 20 Jahre tot ist, erscheint endlich ein Band [1] Thomas Bernhard (2011): Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Herausgegeben von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Berlin: Suhrkamp Verlag. , der uns den ‹öffentlichen› Thomas Bernhard zeigt, in einigen seiner Interviews, Leserbriefe, Stellungnahmen und Reden, und dies über einen Zeitraum von 1954 bis 1989. Um es kurz und deutlich zu sagen: Dies ist ein wunderbares Buch!

So spricht er unter vielem anderen über
  • das Theater («Ja, bei allem Verständnis, was ist denn Theater? Besteht es denn nur noch aus billigem, ausgeleierten Amüsement? Wenn ja, dann soll man es morgen schon zusperren!»);
  • die Schriftstellerei («Was ihr jungen Schriftsteller braucht, ist nichts als das Leben selbst […] es ist die Heimatlosigkeit eurer Seele und die Heimatlosigkeit eures Fleisches, die tägliche Trostlosigkeit, die tägliche Verlassenheit, der tägliche Frost, die tägliche Umkehr, ein nur tägliches Brot […]»);
  • die Autoren, die er liebt (u.a. Hamsun, Wolfe, Dostojewski, Montaigne und Wittgenstein);
  • das Denken («Wer denkt, löst auf, hebt auf, katastrophiert, demoliert, zersetzt, denn Denken ist folgerichtig die konsequente Auflösung aller Begriffe.»);
  • Männer («Ich vertrage Männer nicht. Männergespräche halte ich nicht aus. Die machen mich narrisch. Männer reden immer über das gleiche. Über ihren Beruf oder über Frauen. Etwas Besonderes kann man von Männern überhaupt nicht hören. Männeransammlungen sind mir unerträglich.»);
  • das Publikum seiner Theaterstücke («Das Publikum ist der Feind des Geistes, deshalb habe ich für das Publikum nichts übrig, es haßt den Geist und es haßt die Kunst und es will nur das Dümmste zur Unterhaltung.»);
  • den Applaus des Publikums («Das Unheil kommt ja immer aus der klatschenden, tosenden Menge. Alles Grausen kommt aus dem Applaus!») und
  • die Beziehung zwischen Regierten und Regierenden («Wenn wir genauer hinschauen, sehen wir, was wir immer gesehen haben: Die Marionetten sind das schwachsinnig unbelehrbare Volk, und die daran ziehen (die Drahtzieher), die das Volk für dumm verkaufende Regierung.»)

  • Und natürlich legt Thomas Bernhard seine Finger nicht nur in jede Wunde des österreichischen Volksgeistes, sondern er skizziert auch immer wieder seine Sicht auf die Welt und die Menschen, die diese Welt immer weniger bewohnbar machen. Der von uns über alle Maßen verehrte Karl Kraus hat sich Zeit seines Lebens an den Bewohnern und den Strukturen Österreichs abgearbeitet, so spricht er in seiner ‹Fackel› einmal von Österreich als ‹Versuchsstation des Weltirrsinns› (Fackel Nr. 398, Seite 17 (1914)) und dreimal von Österreich als ‹Versuchsstation des Weltuntergangs› (Fackel Nr. 400, Seite 2 (1914), Fackel Nr. 400, Seite 46 (1914) und Fackel Nr. 890, Seite 305 (1934)). [2] Diese Quellenangaben sind auf der Seite der Austrian Academy leicht nachzuprüfen. Darüber hinaus läßt sich hier auch die gesamte ‹Fackel› durchsuchen! Wunderbar!

    Und wie drückt Thomas Bernhard sein Scheitern an den spezifischen österreichischen Geisteszuständen, an dieser ‹Körper- und Geistesunbeholfenheit›, an diesem ‹Gegenwartsstumpfsinn›, dieser ‹Geistesbedürfnislosigkeit› aus? So:

    «Auf der Öde der Republik herrschen abwechselnd unter den entsetzlichsten und perfidesten Geistzuständen die Niedertracht und der Stumpfsinn. […] Eine gespenstische Symmetrie der Minderwertigkeit und der Ausweglosigkeit aus der Minderwertigkeit ist unsere Verfassung geworden. Unser Volk ist Volk ohne Vision, ohne Inspiration, ohne Charakter. Intelligenz, Phantasie sind ihm keine Begriffe. Ein Volk von Schleichhändlern und Dilettanten, zeugt es sich in jedem Augenblick in seinem alpenländischen Exklusivschwachsinn fort.»

    Ach, Thomas Bernhard! Es gibt so viele Anregungen in diesem Buch, über die Zeitläufte in unserer Republik nachzudenken, daß es nur ein Fazit geben kann, liebe Leser und Leserinnen: Lesen Sie dieses Buch!



    Erstellt: 18. April 2011 – letzte Überarbeitung: 19. April 2011
    Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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