BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Egon Friedell: Vom Schaltwerk der Gedanken»
von Henriette Orheim
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«Kultur ist Reichtum an Problemen.»
(Egon Friedell) [1] Egon Friedell (1912): Ecce Poeta. Berlin: S. Fischer Verlag. Seite 21.

Ach! Egon Friedell. Ihm hat die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› viel zu verdanken. Immer wieder lesen wir Essays von ihm, immer wieder schauen wir in seine monumentalen ‹Kulturgeschichten›, immer wieder zitieren wir in unseren Beiträgen zum ‹Skepsis-Reservat› Aphorismen von ihm, kurz: Immer wieder erfreuen wir uns an seinen Überlegungen. Und jetzt dies: Während Jugendliche in Großbritannien Gadget- und Fummel-Shops plündern und zerstören, aber einen direkt daneben liegenden Buchladen gänzlich ungeplündert und unzerstört lassen, entdecken wir eine rezente Sammlung der besten Essays von Egon Friedell [2] Egon Friedell (2009): Vom Schaltwerk der Gedanken. Ausgewählte Essays zu Geschichte, Politik, Philosophie, Religion, Theater und Literatur. Herausgegeben von Daniel Keel und Daniel Kampa. Zürich: Diogenes Verlag. : Was soll das bedeuten? Und vor allem: Wer soll diese Sammlung angesichts von millionenfach verkauften Flach-Büchern geistig flacher Autoren und Autorinnen lesen? Von einem 1878 geborenen und 1938 in den Tod getriebenen Autor? [3] Lesen Sie die ‹Rückblende› in dem Essay über Ödön von Horváth: ‹Eine Nacht und ein Tag›. Was hat er uns heute zu sagen? Nun, viel. Allerdings nur den wenigen Glücklichen, die noch lesen können.

Es ist gut möglich, daß Egon Friedell – neben unserem Gott Karl Kraus – derjenige Autor ist, der in unseren Texten am häufigsten zitiert wird. Nun, das hat einen Grund: Egon Friedell, das Universalgenie, konnte denken. Immer wieder stoßen wir auf überraschende Wendungen, die er in endgültigen Aphorismen festhält. Wählen wir einige unserer Lieblingsbeispiele.

Das folgende Zitat hat einer unserer Autoren immer wieder in universitären Lehrveranstaltungen an eben den Beginn seiner Lehrveranstaltungen gestellt:

«Unser Leben zerfällt in zwei Hälften, und jede dieser Lebenshälften hat eine besondere Aufgabe. In der ersten Lebenshälfte werden uns von allerlei fremden Menschen eine Menge von Ansichten, Urteilen und Meinungen mitgeteilt, und wir haben die Aufgabe, diese Ansichten auswendig zu lernen; in unserer zweiten Lebenshälfte haben wir die Aufgabe, diese Ansichten teils zu vergessen, teils durch ihr Gegenteil zu ersetzen. Der zweite Teil des Pensums ist natürlich viel schwieriger. Einem Urteil zustimmen und sich dabei denken: «Der andere wird's schon wissen»: – das ist leicht. Aber sich gegen eine allgemein verbreitete Ansicht stemmen und sagen: «Wieso? Ich halte es für Quatsch.» [...] Das ist nicht ebenso leicht und endet meist mit irgendeiner Entlassung.» [4] Egon Friedell (1993): Abschaffung des Genies. Essays bis 1918. Herausgegeben und mit einem Nachwort "Friedell als Buchautor" von Heribert Illig. Wien: Kremayr & Scheriau. 2. Auflage. Seite 9.

Mit diesem Aphorismus waren die Studierenden regelmäßig überfordert. Sie wollten lernen, nicht denken lernen. Unser Autor erzählt heute noch begeistert von diesen Verwirrungen! Und, liebe Leserin, lieber Leser, denken Sie nur einmal an die allseits beschleunigten Bachelor-Studierenden der Jetztzeit! Hach! Da dürfte der ‹zweite Teil des Pensums› ewig unbewältigt bleiben!

Schauen wir uns diese Sätze an:

«Bei einem Denker sollte man nicht fragen: welchen Standpunkt nimmt er ein, sondern: wie viele Standpunkte nimmt er ein? Mit anderen Worten: hat er einen geräumigen Denkapparat oder leidet er an Platzmangel, das heißt: an einem "System"?» [5] Egon Friedell (1993): Abschaffung des Genies. Ebenda Seite 7.

Erinnert uns das nicht an Nietzsches

«Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit» [6] Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung. Sprüche und Pfeile. Aphorismus 26. ?

Ja. Über solche Zusammenhänge können wir uns immer wieder erfreuen. Lesen wir noch das folgende und denken dabei an all' die Naiven Realisten, in Alltag und Wissenschaft:

«Die "Wirklichkeit" ist immer und überall gleich: - nämlich unbekannt.» [7] Egon Friedell (1984): Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum ersten Weltkrieg. Ungekürzte Sonderausgabe in einem Band. München: Verlag C.H. Beck. Seite 26.

Hören wir einen Augenblick auf die Schwätzer um uns herum und denken an diesen Aphorismus, müssen wir schon lachen: Denn diese Kakophonie solipsistischer Wirklichkeitsbehauptungen, in Alltag und Wissenschaft, von der Politik ganz zu schweigen, ist eigentlich unbeschreiblich. Alle behaupten, sie hätten nicht nur einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit, sondern auch denjenigen, den eigentlich alle ‹vernünftigen› und nicht ‹ideologisch verrannten› Menschen (etwa ‹Gutmenschen›) haben müßten. Ist das lustig? Ja. Sehr. Aber so ist das, und so sieht es Egon Friedell:

«Der Mensch, dieser berufsmäßige Mißversteher, sieht jedes Ding nur von einer Seite.» [8] Egon Friedell (1993): Abschaffung des Genies. Ebenda Seite 76.

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer: Lesen Sie diesen Sammelband von Egon Friedell, und Sie werden für einige Stunden sehr glücklich sein!



Erstellt: 14. August 2011 – letzte Überarbeitung: 15. August 2011
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