BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Henry Fielding: Joseph Andrews»
von Henriette Orheim
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«Die einzige Quelle des wahrhaft Lächerlichen ist die Pose.
Die Pose hat folgende zwei Ursachen: Eitelkeit oder Heuchelei.»

«Wieso lest ihr so alte Romane?», fragt gar mancher. «Wie kommt ihr nur auf Benito Pérez Galdós' ‹Fortunata und Jacinta› von 1887? Thomas Hardys ‹Clyms Heimkehr› von 1878? Anne Brontës ‹Die Herrin von Wildfell Hall› von 1848? Oder Jane Austens ‹Stolz und Vorurteil› von 1813? Und da sind ja noch viel mehr alte oder uralte Sachen bei euren ‹Buchgeschichten›. Warum? Und jetzt kommt ihr mit einem Schmöker von 1742 daher? Was hat uns der denn zu sagen? Was soll denn diese Weltflucht? Gibt es heute denn nicht genug aktuelle Romane, Krimis und ‹Fantasy›, die viel besser sind und auch viel besser zu lesen sind?»

Wir sagen: «Nicht wirklich!»

Warum lieben wir also in der Redaktion der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› ‹alte› Romane? Nun, die meisten von uns fanden das Fach Geschichte immer äußerst uninteressant, weil es in der Regel meist um Kaiser, Könige und Kriege ging. Uns interessierte und interessiert aber brennend, zu welchen Zeiten die Leute in welchen Lebensumständen und mit welchen Überzeugungen existierten. Wie haben sie in welchen sozialen Räumen gelebt und sich dabei die Welt zurecht gelegt? Das ist die Frage, die uns begeistert! Sie sehen, liebe Leserin und lieber Leser, wir lieben kulturanthropologische, ‹völkerpsychologische› (Ach! Wilhelm Wundt!), mythographische, ethnographische, ethnopsychologische und ethnomethodologische Fragestellungen. Und genau deswegen lesen wir ‹alte› Romane. Denn dabei erfahren wir etwas über die Lebensumstände in vergangenen Zeiten.

So habe ich gerade einen alten Roman von Henry Fielding wieder gelesen und bin schlicht begeistert (‹Die Geschichte der Abenteuer des Joseph Andrews und seines Freundes Mr. Abraham Adams›. Zürich: Manesse. 1994; Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «The History of the Adventures of Joseph Andrews, And of His Friend Mr. Abraham Adams». London 1742).

Was gefällt mir daran? Ach, die Lebensklugheit des Autors, die uns immer wieder zeigt, wie Sprechen und Handeln bei uns Menschen auseinander laufen, wie wenig wir in der Lage sind, uns und unser Sprechen und Handeln zu beobachten, wie Eitelkeit, Heuchelei, Egoismus und Bigotterie unser Leben bestimmen, auch wenn wir dies niemals wahr haben wollen und diesbezügliche Vorwürfe ‹auf das schärfste› zurückweisen würden.

Henry Fielding stellt in eben diese Welt voller Heuchelei und Pose – wir sollten kurz mal an den berühmten und geliebten Kavalier denken – zwei, nein drei ganz reine Personen und wir erleben, was ihnen widerfährt. Drei ‹reine› und ‹gute› Menschen gegen den Rest der Welt. Natürlich nimmt alles ein gutes Ende, aber was bis dorthin an menschlichen Schändlichkeiten gegen unsere zwei Helden und eine Heldin aufgeboten wird und was an allfälligen verbalen Begründungen für eben diese Schändlichkeiten heran gezogen wird, das läßt uns nachdenklich werden.

Es gibt eine großartige und unvergeßliche Szene, die ich ihnen erzählen möchte, damit sie auf den Geschmack dieses wundervollen Buches kommen: Joseph Andrews wird nachts auf einer Landstraße überfallen, schwer verletzt und nackt in einen Straßengraben geworfen. Nun kommt eine Postkutsche vorbei:

«Der Postillion, der einen Menschen stöhnen hörte, hielt die Pferde an und sagte zum Kutscher, er sei sicher, dort im Graben liege ein Toter, denn er höre ihn stöhnen. «Fahr zu, Kerl», sagt der Kutscher, «wir sind verdammt spät dran und haben nicht Zeit, uns um Tote zu kümmern.» Eine Dame, die hörte, was der Postillion sagte, und ebenfalls das Stöhnen vernahm, rief dem Kutscher eilfertig zu, man solle anhalten und nachsehen, was passiert sei. Daraufhin wies dieser den Postillion an, abzusteigen und im Graben nachzuschauen. Das tat er und meldete dann, da wäre jemand, ein Mann, der säße so nackend da wie am Tag seiner Geburt. «O Jesus», rief die Dame, «ein nackter Mann! Lieber Kutscher, fahrt zu und laßt ihn sein.» Darauf stiegen die Herren aus, und Joseph flehte sie an, sich seiner zu erbarmen, denn man habe ihn ausgeraubt und beinahe zu Tode geprügelt. «Ausgeraubt!» schreit ein alter Herr, «fahren wir schleunigst weiter, sonst werden wir ebenfalls ausgeraubt!»

So geht das weiter. Und als Joseph doch schließlich nach langem Zögern mitgenommen wird, will keiner dem Frierenden einen Mantel geben:

«Die beiden Herren klagten, es sei ihnen kalt und sie könnten kein Fetzchen Tuch entbehren; dazu sagte der auf Witz bedachte Herr lachend, jeder sei sich selbst der Nächste.» Und so geht das weiter.

Ich erinnere mich genau, wie ich Mitte dieses Jahres vor der hiesigen Stadtbibliothek einen jungen Mann fand, der regungs- und bewußtlos auf dem Pflaster lag. Ich untersuchte ihn kurz und rief dann den Rettungsdienst an. In den wenigen Minuten, in denen ich auf diesen wartete, zählte ich die Menschen, die achtlos an dem auf dem Boden liegenden jungen Mann vorbei gingen, ja, ihn vermutlich nicht einmal sahen. Und schon gar niemand beugte sich zu ihm hinab. Liebe Leser und liebe Leserinnen, das war kein ‹Bystander-Effekt›, denn ich stand etwa 50 Meter weiter an der Straße, um den zu erwartenden Rettungsdienst hurtigst auf mich aufmerksam machen zu können.

Weswegen erzähle ich diese Geschichte? Ach, lesen Sie Fieldings ‹Joseph Andrews›. Fielding kennt die Menschen des 18. Jahrhunderts in- und auswendig. Er ist ein ganz großartiger Beobachter des verworrenen Menschseins in den damaligen Zeiten. Und am Ende der Lektüre werden Sie sich fragen, ob wir uns alle – insbesondere in der jetzigen Spätmoderne – wirklich auf einer höheren Entwicklungsstufe des Menschseins befinden.



Erstellt: 20. Dezember 2011 – letzte Überarbeitung: 20. Dezember 2011
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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