BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«L. N. Tolstoi: Anna Karenina»
von Henriette Orheim
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«Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich;
aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.»
(Übersetzung von H. Röhl)

Das Motto zu dieser kleinen Buchgeschichte gibt den ersten Satz dieses großartigen Romans wieder. Und eben dieser Romananfang wird oft und gerne zitiert, ja, er hat als das ‹Anna-Karenina-Prinzip› gar Eingang in ‹wissenschaftliche› Diskurse gefunden. Nun, lieber Leser und liebe Leserin, Ihnen schwant schon, daß wir hier weder dies weiter verfolgen noch – wie es immer noch üblich ist in Besprechungen aller Art – den Inhalt des Romans skizzieren wollen. Was wollen wir statt dessen? Nun, wir möchten Sie, genau wie bei den vielen anderen Büchern, die wir Ihnen in unseren ‹Buchgeschichten› empfohlen haben, dazu verführen, diesen Roman zu lesen.

Denn zum einen finden Sie in dem 1878 erschienenen Roman mustergültige kulturphysiognomische Untersuchungen über ein Land in einer bestimmten Zeit und Kulturepoche. Die sich selbst perpetuierenden unterschiedlichen sozialen Räume und die soziale Konstruktion der ‹Wirklichkeit› in den verschiedenen sozialen Strata werden mit größter und stupender Genauigkeit beschrieben. Nur zur Erinnerung: Die ‹Leibeigenschaft› der Bauern in Rußland wurde erst wenige Jahre vorher – 1861 – abgeschafft, mit dem Ergebnis, daß sich die meisten Bauern mit hohen und ausweglosen Schulden konfrontiert sahen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Zum anderen gibt es kaum einen Autor, der sich mit solcher Akkuratesse, Inbrunst und Sorgsamkeit in die von ihm geschaffenen Personen hinein fühlen kann, unabhängig davon, ob es sich um Männer, Frauen oder Kinder handelt. Tolstoi beobachtet, er sieht, und dies in einer Akribie und Detailliertheit, die uns immer wieder verblüfft. Egon Friedell schreibt dazu in dem Sammelband ‹Vom Schaltwerk der Gedanken› (Seite 291 f.):

«Seine (Tolstois) ganze Leistung besteht darin, die Dinge so sehen zu lassen, wie sie niemand sieht, das heißt: so wie sie sind. […] Gerade das Allerunbemerkbarste und Verdeckteste fängt er auf. Dinge, die kein anderer Zuschauer beachten würde. Dinge, von denen die Personen, die er beschreibt, selber nichts wissen.»

Und zum dritten prägen sich uns bildhaft Szenen des Romans ein, die wir nie mehr vergessen werden. Wir können mit Bestimmtheit sagen, daß Tolstoi gleichsam visuell geschrieben hat, er hat – noch einmal, man bedenke 1878 als Erscheinungsjahr – also im Grunde ein Drehbuch verfaßt mit präzisen und überwältigenden Bildern.

Oberflächlich betrachtet geht es in ‹Anna Karenina› um eine multiple Ehebruchsgeschichte. Und zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab es tatsächlich einige Kritiker, die Ehemännern empfahlen, ihren Ehefrauen dieses Buch auf den Nachttisch zu legen, um sie vor ‹Fehltritten› zu bewahren. Naturgemäß waren Ehemännern in der damaligen Zeit ‹Affären› erlaubt. Denn die Affäre eines Mannes konnte niemals ein Fehltritt sein, ebenso wie das Delikt eines Kavaliers immer nur ein Kavaliersdelikt sein kann. Diese bigotte Rezeption des Romans währte jedoch nur wenige Jahrzehnte.

Heute steht der Roman ‹Anna Karenina› da als ein ewiges Meisterwerk, in dem keine Antworten auf die Fragen des Lebens gegeben und keine Rezepte für das Leben ausgestellt werden, sondern in dem – über die wunderbare Beobachtung des Lebens einiger Menschen hinaus – immer wieder Antworten auf die vielen Fragen unseres Seins gesucht und doch wieder verworfen werden. Was können wir von einem Roman mehr erwarten?



Erstellt: 22. März 2012 – letzte Überarbeitung: 27. März 2012
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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