BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Edward M. Forster: Howards End»
von Artus P. Feldmann
Als PDF-Datei laden

«Dieser Bewegungs- und Geschwindigkeitstick hat ja erst
im Laufe der vergangenen hundert Jahre eingesetzt.
Vielleicht folgt darauf eine Kultur, die nicht mit der Zeit geht,
weil sie nämlich auf der Erde ruht.»
(E. M. Forster)

Manchmal kommen wir über einen Film zum Lesen des Buches, auf dem der Film basiert, und manchmal ist es umgekehrt, wobei es im letzteren Fall fast immer eine Enttäuschung gibt: Zum einen haben wir nach der Lektüre des Buches ja bereits bestimmte Bilder von Personen und Settings im Kopf und sind dann sehr enttäuscht, diese im Film nicht wieder zu finden, zum anderen ist in einem Film einfach nicht der Raum, allen uns lieb gewordenen Seitenpfaden eines Buches zu folgen. Im Falle von E.M. Forster war es nun so:

Bei einer Recherche im längst aufgegebenen und nur noch antiquarisch erhältlichen ‹Kindlers Neuem Literatur Lexikon› stieß ich zufällig auf Forsters Eintrag, den ich nie beachtet hatte, las die Kommentare und Belobigungen zu seinem schmalem Œuvre, erinnerte mich vage an die dort erwähnten ein oder zwei Filme [1] Etwas genauer: Es waren ‹A Room with a View› von 1985 und ‹Howards End› von 1992. In beiden Filmen hatte James Ivory die Regie, Ruth Prawer Jhabvala schrieb das Drehbuch und Ismail Merchant war der Produzent. Und Oscars gab es wohl auch., die ich in den 80ern/90ern des vergangenen Jahrhunderts wohl gesehen hatte, wählte irgendeinen Roman aus, besorgte ihn und dachte, wenn Forster so gelobt wird, will ich mal sehen, was da dran ist.

Überraschung: ‹Howards End› [2] E. M. Forster (1987): Wiedersehen in Howards End. Aus dem Englischen von Egon Pöllinger. München: Nymphenburger (F.A. Herbig). (etwa 1910 erschienen) ist einer der besten Romane, die ich je gelesen habe. Wie kann das sein? Nun, ich glaube es liegt zum einen daran, daß E. M. Forster sich für die Unterschiede zwischen sozialen und ethnischen Räumen interessiert: Was wird da geredet? Was gilt als unumstößliche Tatsache? Worum geht es im Leben? Diese Fragen führen dann zu sehr netten und triftigen völkerpsychologischen und ethnographischen Einsichten und Aperçus, die gerade das Herz Sozialer Konstruktivistinnen erfreuen. So sagt Forster über den Unterschied zwischen Engländern und Deutschen:
«Und doch verrieten ihre Worte jenen Hang zum Universellen, den der Durchschnittsdeutsche besitzt, der Durchschnittsengländer aber nicht. Hier sprach, wie unlogisch es auch klingen mochte, das Gute, das Schöne, das Wahre im Gegensatz zum Schicklichen, zum Gefälligen, zum Angemessenen.»
Über Kapitalisten im allgemeinen und über die Unterschiede zwischen Arm und Reich läßt er eine Hauptperson seiner Geschichte sagen:
«Ich kann solche Männer nicht leiden. Die […] reden vom Überleben der Tauglichsten und drücken die Gehälter ihrer Angestellten herunter.» Und:
«Den Menschen zu vertrauen ist ein Luxus, den sich nur die Wohlhabenden gönnen können; die Armen können sich ihn nicht leisten.»
In ‹Howards End› gibt es sehr gut beobachtete Gespräche und Auseinandersetzungen zwischen Vertretern einer wenig intellektuellen und reichen Oberschicht, die die Welt nehmen, wie sie ist (‹Arme wird es immer geben!›), und Vertretern einer durch und durch intellektuellen Mittelschicht, die zwar auch nicht arm sind, die jedoch als ‹Gutmenschen› etwas zur Verbesserung der Welt beitragen wollen (‹Wie können wir Armen helfen?›). Das ist sehr schön erzählt.

Zum anderen geht es E. M. Forster nicht darum, die Insassen der verschiedenen sozialen Räume gegeneinander auszuspielen, sondern er hat eine Aussöhnung, eine Versöhnung, ein Verstehen-Wollen der Rauminsassen untereinander im Blick. Und dieser erstaunlich romantische Faden durchzieht auch seine anderen Romane. Das ist sehr schön zu lesen. Es entfernt uns von einer ‹Vergeblichkeit› und einer ‹Ästhetik des Scheiterns›, die wir in vielen anderen Buchgeschichten gefeiert haben.

Doch diese Beschreibung der ‹feinen Unterschiede› (Pierre Bourdieu), der unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen und der darauf basierenden Selbstverständlichkeiten in unterschiedlichen sozialen Systemen, ist längst nicht alles, was diesen Roman ausmacht. Man merkt E. M. Forster an, daß er in der berühmten ‹Bloomsbury Group› sozialisiert wurde. Sein literarischer, ästhetischer und ethischer Hintergrund macht das Lesen seiner Aperçus zu einer reinen Freude.

So sagt er über Beziehungen:
«Überall auf der Welt quälen sich Männer und Frauen, weil sie sich nicht so entwickeln können, wie sie sich eigentlich entwickeln sollten. Hier und da einmal machen sie ihrem Herzen Luft und danach fühlen sie sich wieder etwas wohler.»
Über Sprache und Verstehen:
«Das Einzige, was die beiden miteinander gemein hatten, war die englische Sprache, und mit deren Hilfe versuchten sie nun auszudrücken, was sie beide nicht verstanden.»
Über das Leben an sich:
«Das wirkliche Leben steckt voller falscher Spuren und Wegweiser, die nirgendwohin führen. Mit unendlicher Anstrengung rüsten wir uns für eine Krise, die dann nie kommt.»
Über die Medizin:
«Die Wissenschaft konnte den Menschen wohl erklären, verstehen konnte sie ihn nicht. Nachdem sie sich jahrhundertelang mit Knochen und Muskeln aufgehalten hatte, mochte sie nun vielleicht langsam zu einer Kenntnis des Nervensystems vordringen, aber die Fähigkeit zu verstehen war auf diesem Wege nicht zu erlangen.»
Über eine geplante Psychiatrisierung:
«Der Arzt, ein noch sehr junger Mann, begann Fragen über Helen zu stellen. Ob sie normal veranlagt sei? Ob man von angeborenen oder ererbten Störungen sprechen könne? […] In Margaret schwollen Zorn und Entsetzen […] immer höher an. Was nahmen diese Männer sich für eine Sprache gegen ihre Schwester heraus! Welche Entsetzlichkeiten stünden noch bevor! Welche Unverschämtheiten unter dem Deckmantel der Wissenschaft! Die Meute war dabei, sich auf Helen zu stürzen, um ihr die Menschenrechte abzuerkennen. […] ‹Waren sie normal?› Was für eine Frage! Und ausgerechnet diejenigen, die keine Ahnung von der menschlichen Natur haben, die sich bei der Psychologie langweilen und bei der Physiologie in Entsetzen verfallen, ausgerechnet die müssen immer diese Frage stellen.»
Tja, besser geht es kaum. Deswegen das wenig überraschende Fazit: Sehr lesenswert.

P.S. Eine Praktikantin in unserer ‹Bochumer Arbeitsgruppe›, die diese kleine Buchgeschichte redigierte, meinte, man erfahre ja gar nichts über den Inhalt des Buches, also über die ‹Handlung›. Das stimmt. Besprechungen von Büchern oder Filmen bestehen da draußen in der Welt des Lesens und Guckens in aller Regel aus Inhaltsangaben. Was soll das?



Ins Netz gestellt am 6. Januar 2014
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.