BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Alice Munro: «Who Do You Think You Are?»
von Henriette Orheim & Albertine Devilder
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«Armut war nicht einfach Ärmlichkeit,
[…] war nicht einfach Entbehrung.
Es bedeutete,
daß man diese scheußlichen Röhrenlampen hatte
und auch noch stolz auf sie war.»

«Niemand spricht dieselbe Sprache.»

«Worte waren alle schmählich.
Sie müssten vor Scham zerbröckeln.»
(Alice Munro)

Präludium

Ja, wir haben den richtigen Zeitpunkt verpaßt. Zwar haben wir in der Redaktion der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› schon seit längerem zwei Aficionadas, die Alice Munros Erzählungen, Geschichten und Novellen sehr schätzen. Sie konnten sich nur nie entscheiden, welches Buch sie hier als ‹Buchgeschichte› vorstellen sollten. Immer wieder sprachen wir über Munro und wer, außer uns und Jonathan Franzen, sie zu schätzen weiß. Und als nun Alice Munro im Oktober 2013 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, war zunächst einmal Schluß mit den Überlegungen. Die beiden Aficionadas hatten keine Lust, auf einen Zug der Verehrung aufzuspringen. Da sind sie eigen.

Doch nun ist nicht nur Gras über diese Angelegenheit gewachsen, sondern ein Buch, das wir seit vielen Jahren sehr schätzen, ist soeben neu herausgegeben worden. Also, auf geht‘s.


Who Do You Think You Are? [1] Alice Munro (1978): Who Do You Think You Are. In der deutschen Übersetzung wird aus diesem Titel «Das Bettlermädchen. Geschichten von Flo und Rose». Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2014.

Das Besondere an diesem Band ist zunächst einmal, daß die zehn Erzählungen inhaltlich miteinander verbunden sind. Unseres Wissens gibt es das in Munros Œuvre [2] Wir empfehlen für alle diejenigen, die Alice Munro kennen lernen möchten, noch diese beiden Bücher:
• Alice Munro (2012): Was ich Dir schon immer sagen wollte. Dreizehn Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. Zürich:Dörlemann Verlag.
• Alice Munro (2010): Tanz der seligen Geister. Fünfzehn Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. Zürich:Dörlemann Verlag.
nicht noch einmal. Dennoch bleibt Alice Munro bei ihrem Stil, jede einzelne Geschichte in einem gewissen Sinn endgültig, abschließend und monolithisch erscheinen zu lassen, und sie erzählt sie zu Ende. Genau dies finden wir in vielen alten [3] Klassisch ist hier zum Beispiel der 1836 erschienene Roman «Die Epigonen» von Karl Immermann. und wenigen jüngeren Romanen, daß die in einem Roman vorgestellten Personen und Akteure am Ende jeweils wieder verabschiedet werden, indem uns gesagt wird, was aus ihnen geworden ist.

So geht es hier in jeder Geschichte um ein schmales Zeitfenster, das gegen Ende der Geschichte geöffnet wird, indem wir Dinge erfahren, die erst viel später in einer der folgenden Geschichten geschehen werden. Ein komplexes Gefüge aus Rückblenden und Vorgriffen, das ist in etwa Munros Art des Erzählens.

In «Who Do You Think You Are?» geht es, wie in Forsters ‹Howards End›, um soziale Unterschiede. Triftig werden verschiedene Milieus beschrieben, und es wird klar, daß wir alle unsere zu Zeichen gewordene Entwicklung in einem bestimmten Milieu für immer mit uns herum schleppen, auch wenn wir uns scheinbar aus unserem Milieu heraus bewegen. Wir zeigen dieses Milieu in der Sprache, die wir sprechen, im Aussehen, in den Zielen, die wir uns setzen, in den Interessen, die wir ‹haben›, und in vielem mehr. Und wie in ‹Howards End› prallen die in unterschiedlichen Räumen erworbenen Selbstverständlichkeiten aufeinander. Das ist sehr gut beobachtet und sehr schön zu lesen.

Das Besondere an diesem Band ist nun zum anderen die unglaubliche erzählerische Dichte einiger Szenen. Zwei möchten wir erwähnen, die uns nachhaltig beeindruckt haben.

Die Hauptperson in den zehn Erzählungen hat sich in einem Erkenntnisschub und unter Beschimpfungen von ihrem Verlobten getrennt. Wochen später sieht sie ihn in einer Lesekabine einer großen Bibliothek. Und indem sie ihn durch ein kleines Fenster betrachtet, wird sie plötzlich von der Vorstellung überwältigt, wie es wäre, wenn sie jetzt in diese Kabine ginge und die Trennung zurück nehmen würde:
«Das war eine heftige Versuchung für sie; sie konnte sie kaum bezwingen. Sie spürte einen Impuls, sich vorwärtszuwerfen. Sie konnte wirklich nicht sagen, ob sie sich von einer Klippe herab oder in ein warmes Bett von wohligem Gras und Blumen werfen wollte. Es war schließlich einfach unbezwingbar. Sie tat es.»
In der zweiten Szene, die wir hier erwähnen möchten, hat unsere Hauptperson eingekauft, den Abendbrottisch geschmückt und mit leckeren Sachen gedeckt. Sie wartet auf den Mann, den sie liebt. Sie wartet sehr lange, und der Mann kommt nicht.
«Bevor es am Montagmorgen hell wurde, packte sie, was sie für nötig hielt, hinten ins Auto und schloss die Haustür ab, während der Camembert weiter auf dem Küchentisch zerfloss; sie fuhr Richtung Westen. Ihr war, als sei sie mehrere Tage gefahren, ehe sie zur Besinnung kam […].»
Und nun, langsam, über mehrere Buchseiten hinweg, beginnt unsere Hauptperson – aus der Enttäuschung hinaus gehend – ein neues Leben, sie schreibt, im Auto, etwa Briefe, um sich aus ihrer beruflichen Klammer zu lösen, sie schreibt einem Makler und kündigt ihre Wohnung, sie schreibt einen Brief an eine Frau, die sie schätzt und zurück läßt. Das ist etwas, von dem wir oft träumen: Alles zurück lassen. Das ‹eigene› Leben hinter sich lassen. Und wie Alice Munro diese Wandlung, diesen Neubeginn, diesen Aufbruch beschreibt, das ist große Literatur. Das ist wunderbar! Chapeau!



Ins Netz gestellt am 17. Juni 2014
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