BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel»
von Artus P. Feldmann
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«Erfundenes ist keine Tatsache,
aber Erfundenes wählt und durchdringt Tatsachen,
ordnet sie und verleiht ihnen Sinn.»
(Thomas Wolfe)

«Look Homeward, Angel. A Story of the Buried Life» [1] Deutsche Ausgabe: Thomas Wolfe (2009): Schau heimwärts, Engel. Eine Geschichte vom begrabenen Leben. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und umfassend kommentiert von Irma Wehrli. Nachwort von Klaus Modick. Zürich: Manesse. erschien 1929. Geschrieben wurde dieses überbordende Werk von 700 Seiten von einem im Jahr 1900 geborenen Autor mit dem Namen Thomas Wolfe. 1935 erschien eine über 1000 Seiten umfassende Fortsetzung:«Of Time and the River. A Legend of Man’s Hunger in His Youth». [2] Deutsche Ausgabe: Thomas Wolfe (2014): Von Zeit und Fluss. Legende vom Hunger des Menschen in seiner Jugend. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und umfassend kommentiert von Irma Wehrli. Nachwort von Michael Köhlmeier. Zürich: Manesse. 1938 starb der Autor.

Kann man diese Bücher heute noch lesen? Berühren sie uns? Helfen sie uns, uns selbst und unser jetziges So-Sein zu verstehen? Oh ja. Deswegen werde ich Ihnen «Schau heimwärts, Engel» etwas näher bringen.

Thomas Wolfe beschreibt in diesem stark autobiographisch geprägten Roman die Entwicklung einer Seele, seiner Seele. Die Hauptperson nennt er Eugene Gant, und wir folgen ihm in seinen ersten zwanzig Jahren. Er wird in einen engen sozialen Raum hinein geboren: Da sind Vater und Mutter, da sind Geschwister, Verwandte, und eine kleine Stadt in den USA. Alles ganz normal. Aber das Normale ist eben das Unerträgliche. Hinter dem schönen Schein des Familienlebens haust Unaussprechliches. Denn niemals wird über das Eigentliche und Wesentliche gesprochen. Nur gelegentlich, bevor schon wieder alles zugedeckt wird, blitzen Bewußtseins-Splitter auf, die das Eingepferchtsein erhellen. So schaut die Mutter einmal auf den Vater:
«Und Furcht und namenloses Mitleid stiegen in ihr auf, wenn sie sah, wie die kleinen, flackernden Augen sich verschatteten und stumpf wurden vom vergeblichen und stümperhaften Sehnen im ewigen Scheitern. Ach, verloren!»
Viele Momente, in denen eine Erkenntnis dräuen, die Sprachlosigkeit überwunden werden könnte, werden lapidar mit einem «Ach, was soll das alles!» abgebrochen. So ist das in normalen Familien. Aber da ist ein gewaltiger Lebenshunger in Eugene Gant, dem Jüngsten, dem Nachkömmling, nach allem, was vorstellbar ist, vor allem aber nach Bildung!

Und er schafft es tatsächlich, sich aus seiner Familie zu lösen, sich zu emanzipieren, denn er darf eine Privatschule besuchen.Und das ist sein großes Glück, der Beginn seiner Befreiung. So schildert Thomas Wolfe die erste Begegnung von Eugene Gant mit seiner Lehrerin:
«Ihr Gesicht verdunkelte sich mit einer seltsamen Leidenschaft, die keine Spur hinterließ und sich so körperlos wie das Leben selbst zeigte; ihre braunen Augen wurden schwarz, als wäre ein Vogel hindurchgeflogen und hätte den Schatten seiner Flügel auf sie gelegt. […] Er reckte ihr sein Gesicht entgegen wie ein Gefangener, der einen Lichtschein entdeckt, wie einer, der lange im Finstern gewohnt hat und nun in die Flut der Morgendämmerung eintaucht, wie ein Blinder, der den weißen Kern und die Essenz unauslöschlicher Helligkeit auf den Lidern spürt.»
Und Eugene Gant liest und liest. Und Thomas Wolfe wirft immer wieder Namen, Orte, Zitate und Historien in den Erzählduktus, daß es eine Art ist. Nun, dies ist ein Erstlingswerk, und der Autor möchte uns vermutlich immer wieder mit seinen stupenden Kenntnissen überraschen. Aber dieses kaleidoskopische ‹Name-Dropping› stört keineswegs, es bereichert den Roman.

Erstaunlich ist, wie fatalistisch Eugene Gant, der nach der Privatschule gar für vier Jahre eine staatliche Universität besuchen darf, den eigentlichen Lehrplan der Universität beschreibt. Es geht um das Knüpfen von Kontakten, es geht um das Schließen von Freundschaften mit denjenigen, die einem später nützlich sein könnten, es geht um eine mögliche berufliche oder politische Karriere, niemals geht es um große Ideen, oder gar um Erkenntnis. Und so sieht Eugene Gant seine Kommilitonen:
«Alles Hervorragende war ihnen verdächtig. Sie lehnten das Ungewohnte mit bäurischer Feindseligkeit ab. Da war einer brillant? Und hatte einen Funken Genie? Schlimm, schlimm! Der war nicht vertrauenswürdig; der war ihnen nicht geheuer.»
Und:
«Natürlich waren die Tölpel am Ruder - sie machten neunzig Prozent der Studentenschaft aus: Sie verliehen die klingenden Titel und sorgten dafür, dass ihre Welt tölpel- und tugendhaft provinziell bleiben durfte. Üblicherweise gingen diese Ehrenämter – Vorsitzender von Studentengremien und YMCA, Jahrgangssprecher, Trainer von Sportmannschaften – an einen rechtschaffenen Fronarbeiter, der sich am Pflug hervorgetan hatte, bevor er das Universitätsfeld beackerte, oder an einen fleißigen Karrengaul, der in jeder Hinsicht zufriedenstellende Mittelmäßigkeit bewiesen hatte. Solch ein fleißiger Karrengaul wurde "Alleskönner" genannt. Er war harmlos, solide und zuverlässig. Er würde nie auf eigene Ideen kommen. Er war das schönste Gewächs universitärer Zucht.»
‹Zufriedenstellende Mittelmäßigkeit›? ‹Rechtschaffene Fronarbeiter›? Ach, wer über Jahrzehnte den Niedergang unserer Universitäten erlebt hat, weiß, wovon Eugene Gant spricht. Und wir erinnern hier gerne an Heinz von Foersters Klagen über die vermeintlich ‹Leistungen› messende Universitäts-Kultur. In seinem Buch «Sicht und Einsicht» [3] Heinz von Foerster (1985): Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Braun- schweig/Wiesbaden: Friedrich Vieweg & Sohn. Seite 13. , lange vor der großen Bologna-Reform, sagt er:
«Tests sind Instrumente, um ein Maß der Trivialisierung festzulegen. Ein hervorragendes Testergebnis verweist auf vollkommene Trivialisierung: der Schüler ist völlig vorhersagbar und darf daher in die Gesellschaft entlassen werden. Er wird weder irgendwelche Überraschungen noch auch irgendwelche Schwierigkeiten bereiten.»
Ja, hier trifft sich vieles.

Am Schluß des Buches skizziert Thomas Wolfe eine ganz wunderbare Traumszene, in der Eugene mit seinem Bruder Ben spricht:
«Mein ungefangene Seele geistert durch die millionenfachen Straßen des Lebens, lebt ihren gespenstischen Alptraum der Sehnsucht und des Begehrens. Wo, Ben? Wo ist die Welt? Nirgends, sagte Ben. Du bist die Welt.»
Dies ist ein ganz wunderbares Buch, geschrieben in einer grandiosen Sprache, wir sehen, hören, riechen und schmecken mit Eugene Gant. Doch das liegt im wesentlichen an der großartigen und erstaunlich gekonnten Neuübersetzung von Irma Wehrli. Doch das ist noch nicht alles.

Irma Wehrli hat auch einen umfassenden Apparat mit 614 (!) Anmerkungen und Erläuterungen geschaffen. Sie ist jedem Zitat, jedem Lied, jedem Ort nachgegangen. Das ist eine unglaubliche Leistung. Allerdings empfiehlt es sich, während der Lektüre nicht in den Fußnoten-Apparat zu schauen, um im Strom der Erzählung zu bleiben.

So ein schönes Buch! Und das Schönste an diesem Buch ist, daß es eine Fortsetzung gibt: Noch einmal über tausend Seiten lesen dürfen! Ach!



Ins Netz gestellt am 19. November 2014
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