BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Ethan Watters: Crazy Like Us»
von Artus P. Feldmann
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Einführung

«Kultur ist Reichtum an Problemen.»
(Egon Friedell)

Liebe Leserin, lieber Leser, können Sie sich ein Buch vorstellen, in dem ein Journalist - kein ‹Wissenschaftler› - Ihnen en passant Begriffe wie Strukturalismus, Post-Strukturalismus oder Kulturphysiognomik erklärt, ohne sie Ihnen zu erklären? Tja, das großartige Buch gibt es. Es ist zuerst 2010 in den USA erschienen (Ethan Watters: Crazy Like Us - The Globalization of the American Psyche. New York: Free Press), und jetzt auch bei uns - in einer kongenialen Übersetzung von Thorsten Padberg (Ethan Watters: Crazy Like Us - Wie Amerika den Rest der Welt verrückt macht. Tübingen: dgvt-Verlag.). Sind Sie neugierig geworden?

Zu Recht. Denn der geniale Grundgedanke des Buches ist, daß sich Vorstellungen von psychischen ‹Erkrankungen› und deren ‹Behandlung› von den USA aus in einer breiten modernen Kolonialisierung weltweit verbreitet haben. Kultur ist Reichtum an Problemen, klar, aber wie wir mit den Problemen vermeintlicher psychischer ‹Erkrankungen› umgehen, ja, ob wir überhaupt von ‹Erkrankungen› sprechen wollen, dies wird uns seit etlichen Jahren von ‹Wissenschaftlern› und Pharmakonzernen aus den USA so nahe gelegt, daß wir kaum mehr anders über psychische Probleme denken und sprechen können.

Spielen wir ein bißchen, und betrachten die oben genannten Begriffe. Beginnen wir mit dem


Strukturalismus
«Die "Wirklichkeit" ist immer und überall gleich: - nämlich unbekannt.»
(Egon Friedell)

Trotz dieses wunderbaren Mottos glauben Menschen stets, sich in definierten Wirklichkeiten zu bewegen. Dabei bewegen sie sich nur in Strukturen von sozialen Systemen und Räumen, die sie für selbstverständlich und plausibel halten. Albertine Devilder sagt es in einem ihrer schönen Essays so:
Wir gehen an die vermeintlich «da draußen» objektiv bestehende Wirklichkeit immer mit einem bestimmten Habitus, einer spezifischen, kulturell, sozial und kommunal definierten Haltung, mit Gewohnheiten, mit gewissen Grundannahmen, mit Mustern, Kategorien, Schemata, Begriffen und Worten heran. Und diese Schemata halten wir gewöhnlich für bereits feststehende objektive Aspekte der Wirklichkeit, während sie doch nur die Folgen der Art und Weise sind, in der wir nach der Wirklichkeit suchen. Durch unser Hineingeborenwerden in eine bestimmte Kulturepoche und in bestimmte soziale Systeme existieren wir also zu einem sehr großen Teil bereits, bevor wir selbst als Person zum Zuge kommen.
Wenn wir uns nun den Umgang mit psychischen ‹Erkrankungen› in unserer Kultur vorstellen, dann stellen wir sehr schnell fest, daß die große Mehrheit von Kulturinsassen hier ein klares Konzept hat: Das medizinische Modell, das wir gerne auch als Diagnose-Rezept-Modell bezeichnen. Wobei - und das ist der strukturalistische Kern - nicht die Menschen sich das Konzept ausgedacht haben, sondern umgekehrt das Konzept in den Menschen wirkt, ohne daß ihnen das bewußt wird.

Und wie sieht unsere ‹normale› Vorgehensweise bei körperlichen oder psychischen Problemen aller Art aus? Was tun wir? Nun, wir suchen einen Arzt auf, um nach einer längeren Wartezeit dann doch innerhalb von einer Minute eine Diagnose und wenige Sekunden später ein Rezept zu erhalten, welches eine bestimmte Medikation nahe legt. So einfach und so schnell geht das. Was uns bewegt, was wir denken, wie wir leben, was uns ausmacht, in welchen sozialen Räumen wir uns aufhalten (müssen) - das spielt im medizinischen Modell keine Rolle.

Ethan Watters zeigt uns, daß der amerikanische Kolonialismus sich für die Strukturen anderer Kulturen nur in so weit interessiert, als daß diese zu verändern sind. In Richtung auf das medizinische Modell, versteht sich.


Post-Strukturalismus
«Gewöhnlich glaubt der Mensch,
wenn er nur Worte hört,
es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.»
(Johann Wolfgang von Goethe)

«Wir stellen ein Wort hin, wo unsere Unwissenheit anhebt.»
(Friedrich Wilhelm Nietzsche)

Natürlich spielt auch im Strukturalismus die Sprache, die in sozialen Räumen gesprochen wird, eine große Rolle. Doch im Post-Strukturalismus rückt die Sprache in den Mittelpunkt. Ethan Watters zeigt uns in seinem Buch, wie sich die Pharmakonzerne weltweit um begriffliche Umkrempelungen kümmern, denn ein Medikament ist immer mit einem bestimmten Wort, einer ‹Diagnose› verbunden: ‹Depression›? SSRI! Und er berichtet über Werbekampagnen, mit Hilfe derer Wörter und Medikation gekoppelt werden.

Nebenbei lernen wir, daß die Pharmakonzerne sich die Etablierung eines Diagnose-Wortes in einer anderen Kultur einiges kosten lassen, daß ‹Wissenschaftler› mit Geld überschüttet werden, daß Ghostwriter der Pharmakonzerne Artikel über die vermeintliche Wirksamkeit von Medikamenten schreiben und ‹Wissenschaftler› ihren Namen als Autor darüber setzen, und daß es keine vertrauenswürdigen Studien über die Wirksamkeit der einschlägigen Medikamente gibt. Klar, das ist uns seit der Lektüre von Whitaker und Cosgrove: Psychiatry under the Influence (2015) vertraut, dennoch ist es immer wieder schockierend, zu lesen, wie korrupt das Gesamtsystem Psychiatrie-Pharmaindustrie ist.


Kulturphysiognomik
«Die Geschichte der verschiedenen Arten des Sehens
ist die Geschichte der Welt.»
(Egon Friedell)

Der große Verdienst von Ethan Watters ist, uns ganz anschaulich zu zeigen, daß es in anderen Kulturen andere Vorstellungen davon gab, wie mit psychischen ‹Problemen› umzugehen sei; wie verschiedene Arten des Sehens, die ja auch immer das Antlitz einer Kultur ausmachen, immer mehr vereinheitlicht werden; wie gewachsene Strukturen des Wissens über psychische ‹Krankheiten› ersetzt wurden durch amerikanische Diagnose-Begriffe; und wie die ‹Behandlung› eben dieser ‹Krankheiten› mehr und mehr einem einheitlichen biomedizinischen Modell folgt, sprich: Der Verabreichung von Medikamenten!

Ethan Watters reist mit uns nach Hongkong und berichtet uns über den ‹Siegeszug› der ‹Anorexie›; dann reisen wir mit ihm nach Sri Lanka und werden mit Erstaunen Zeuge, welche Auswirkungen unsere Vorstellungen von ‹Posttraumatischen Belastungsstörungen› haben; wir reisen mit ihm nach Sansibar, um zu erfahren, wie alte traditionelle Vorstellungen von Dämonen in das Etikett ‹Schizophrenie› gegossen werden; und wir dürfen Ethan Watters nach Japan begleiten, wo die großen Pharmakonzerne zunächst bestimmte Wörter für ‹Diagnosen› etablieren mußten, bevor sie die den Wörtern entsprechenden Medikamente nach dem Diagnose-Rezept-Modell verkaufen konnten.


Schluß

Dies ist kein tröstliches Buch. Es klärt uns zum einen auf, aber zum anderen fordert es uns auch auf, unsere ‹persönlichen› Begriffe von ‹Krankheit›, ‹Abweichung›, ‹Problem› oder ‹Störung› als eine soziale Konstruktion zu sehen - und nicht als eine Art Abbild der Wirklichkeit. Wenn wir im sozialen oder psychotherapeutischen Sektor über die ‹Probleme› von Klienten oder Patienten sprechen, dann bilden wir mit diesem Sprechen nichts in der Wirklichkeit Vorzufindendes ab, sondern wir stellen schlicht Wirklichkeitsbehauptungen auf. Gut zu wissen.

Aber bei aller Aufklärung, die das so empfehlenswerte Buch von Ethan Watters leistet, bleibt ein schmerzlicher Eindruck zurück, denn wir spüren zugleich, was wir schon verloren haben. Vermutlich ist das - global gesehen - nie wieder gut zu machen.

Wir haben Egon Friedell nun einige Male zu Wort kommen lassen, deswegen überlassen wir ihm auch das tröstliche Schlußwort:
«Wo das Leben beginnt, hört die Wissenschaft auf; und wo die Wissenschaft beginnt, hört das Leben auf.»




Ins Netz gestellt am 20. Februar 2016
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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