BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die Mine der Hoffnung»
von Holger Wyrwa
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Die Sonne brannte heiß auf das Mülldorf. Margarita stand vor ihrer Hütte aus Wellblech, Kartons, Holzplatten und Plastikplanen und wischte die Hände an ihrer schmutzigen Schürze ab. Sie hob leicht die Augenbrauen und rief mit einer tiefen und etwas schnarrenden Stimme: «Pablo! Komm her!» Ungeduldig stampfte sie mit dem Fuß auf, als nichts geschah. «Pablo! Komm sofort her! Hörst Du!» Margarita stemmte beide Arme in ihre schmalen Hüften.

Ein kleiner Junge löste sich aus einer Gruppe balgender Kinder. «Was ist?» rief er ihr zu. Der Kleine baute sich breitbeinig vor ihr auf. «Geh! Hilf Deinem Vater! Er braucht Dich!» sagte Margarita kurz. Pablo nickte und verzog sein mit zahllosen eitrigen Pusteln übersätes Gesicht zu einem breiten Grinsen. «Darf ich Hernando mitnehmen?» Margarita zuckte mit den Achseln. «Wenn Du diesen Taugenichts findest! Meinetwegen! Aber daß es nicht zu lange dauert!»

Sie drehte sich um und ging in die Hütte zurück. Pablo sah ihr nach. Er schneuzte seine Nase. Prüfend sog er die Luft ein. Der Gestank, der von den Halden herüberwehte, erschien ihm nicht schlimmer als sonst. Nur trieb ihm heute der beißende Atem der Abfälle Tränen in die Augen. In der Ferne sah er die Schwaden der Müllbrände wabern. Einige Aasgeier kreisten um das Mülldorf. Pablo nickte altklug vor sich hin. Es stimmte doch. Der Gestank war schlimmer als sonst.

Er vergrub die Hände in den weiten Taschen seiner viel zu großen Hose. Pablo fühlte den weichen Stoff. Er mußte lächeln, als er daran dachte, wie sie sein Eigentum geworden war. Es war zu einem harten Kampf gekommen, bei dem er beinahe zwei Zähne verloren hatte. Doch die Hose gehörte seit diesem Tag ihm. Ein schönes Stück, mit nur wenigen Löchern und fast unbeschädigtem Innenfutter. Sicher war sie einmal die Hose eines reichen Kindes gewesen. Ganz sicher. Und nun gehörte sie ihm: Pablo.

Er machte sich auf die Suche nach Hernando und sah gelangweilt auf die vielen Männer, Frauen und Kinder, die sorgfältig den Müll durchkämmten. Es gab im Müll immer sehr viele nützliche Dinge, die noch eßbar und brauchbar waren. Er wunderte sich über die Menschen, die all dies achtlos fortwarfen. Seifenreste, Glas, Papier, Kleider, Schuhe, Blech, Glas, alles konnte noch entweder selbst gebraucht oder verkauft werden.

Pablo fand Hernando unter einem rostigen Blech liegend. Nur seine schmutzigen Füße lugten hervor. Er erkannte diese sofort und stieß sie unsanft an. «Heh, Hernando!» Pablo hörte ein unwilliges Grunzen. «Steh auf, Hernando! Du sollst mir helfen!» Unter dem Blech rührte sich etwas. Pablo wartete geduldig, bis Hernando hervorgekrochen kam. Hernando richtete sich mühsam auf. Sein Körper schwankte ein wenig. Er kratzte sich ausgiebig am Kopf, dann sah er Pablo zweifelnd an. «Wer sagt das?» wollte er wissen und spuckte aus. «Margarita!» erwiderte Pablo und grinste dabei. «Sie hat mir gesagt, daß Du mir helfen sollst!»

Hernando brummte etwas Unverständliches. Er seufzte. «Laß uns gehen!» sagte er schließlich und blickte in den Himmel. Er atmete tief ein und aus. «Schlimmer als sonst!» Hernando deutete auf die Geier, die mit langsamen Bewegungen über den Halden kreisten. «Die warten auf uns!» Er schüttelte sich angewidert. «Dabei haben die nur Hunger! – Wie wir!» Pablo nickte eifrig. «Wenn ich 'mal groß bin, werde ich ‹el presidente›! Dann braucht keiner mehr Hunger zu haben!» Hernando zog geräuschvoll die Nase hoch. Er lachte. «Sicher!» meinte er. «Sicher. Aber Du bist ein Träumer, Pablo.» Pablo sah seinen großen Freund von der Seite an. Er fühlte sich beleidigt. Niemand glaubte ihm. Selbst sein Vater nicht. Alle lachten ihn aus. Dabei wußte er ganz genau, daß er einmal ‹el presidente› werden würde. Er würde nach Buenos Aires gehen. Eines Tages.

«Sieh mal, was ich gefunden habe!» Pablo zog stolz eine tote Ratte aus der Tasche. Er hielt sie am Schwanz und ließ sie hin und her pendeln. «Ratten sterben hier zuerst!» sagte Hernando und musterte sie aufmerksam von allen Seiten. «Erstickt ist die. Krepiert an der verdammten Luft!» Hernando lachte meckernd. Sorgfältig verstaute Pablo die Ratte wieder in seiner Hosentasche.

«Was ist mit Deinem Arm?» fragte Pablo. Erst jetzt war ihm aufgefallen, daß Hernandos rechter Arm mit einem schmutzigen Stoffetzen umwickelt war. «Ist nichts!» wehrte Hernando ab. Pablo sah ihn ruhig an. «Sag es mir, bitte!» «Na ja. Aufgeschlitzt! An einer alten Kanne. Verfluchtes Dreckzeug. Es hat geblutet!» Hernando schwenkte seinen verbundenen Arm vor Pablos Gesicht. «Wird schon wieder werden!» Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Pablo dachte an Margarita. Er zog seinen Freund mit sich fort. «Komm! Laß uns gehen!» Sie kamen an einigen etwas weiter entfernten Müllhalden vorbei. Niemand beachtete sie. Hernando blieb plötzlich stehen. «Sieh mal! Dahinten!» Er deutete auf eine Gruppe von Männern, die lautstark miteinander stritten. Pablo verzog ängstlich sein Gesicht. Unter den Männern war Don Calderon, der Chef der Halde. Ausbeuter, Bürgermeister und Richter zu gleich. «Sieh mal!» flüsterte Hernando, so daß ihn nur Pablo verstehen konnte. «Don Moskito ist wieder bei der Arbeit!» Pablo kicherte leise. Don Calderon wurde von Hernando nur ‹Don Moskito› genannt, weil er so lästig und so verschlagen wie ein echter Moskito war. Doch dies war ein Geheimnis zwischen ihnen beiden. Einmal hatte er seinem Vater diesen Spitznamen verraten. Pablo konnte sich noch gut an die Beule an seinem Kopf erinnern.

Sie gingen weiter an den Halden vorbei und kamen zu einem etwa abseits gelegenen Müllberg. Schon von weitem konnte Pablo seinen Vater erkennen. Er hatte einen eigenen Platz zum Sammeln und arbeitete dort mit einigen Männern und Frauen zusammen. Man sah die beiden Jungs kommen. Einer der Männer schaute auf. «Hallo, el presidente!» Alles lachte. Pablo spuckte verächtlich aus.

Schweigend reihten sich die beiden Jungen ein. Doch an diesem Tag verstrich die Zeit für Pablo quälend langsam. Immer wieder blickte er zur Sonne, die grell auf die Frauen und Männer herunterschien. Ein Aasgeier hatte sich ganz in der Nähe auf einen alten, völlig verbeulten Kühlschrank gesetzt und schielte neugierig zu Pablo herüber. Pablo warf eine leere Büchse nach ihm. Kreischend und mit mächtigem Flügelschlag verschwand der Vogel. Pablo sah ihm eine Zeitlang nach. Dann wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht und hinterließ dabei einen schmierigen Streifen auf der Stirn. Fluchend arbeitete er weiter; durchsuchte den Müll, sortierte überaus flink, warf Unnützes weg, legte Brauchbares auf die Seite. Ab und zu starrte er auf seine Ausbeute, die fein säuberlich auf einem Papierstreifen ausgebreitet lag: sechs ausgedrückte Zahnpastatuben, drei leere Parfümflaschen, einige Schuhsohlen, ein alter Aluminiumtopf und noch manches andere. Pablo war unzufrieden. Fand er nichts Besseres, hätte er heute nicht mehr als einige Pesos verdient. Er fluchte vor sich hin, bis ihm etwas wohler war.

Er schielte zu Hernando herüber. Doch Hernando war plötzlich nirgendwo mehr zu sehen. Pablo blickte sich suchend um. Er kletterte über den Müll, bis zu der Stelle, wo er ihn zuletzt gesehen hatte. Er fand ihn auf einer kleinen Halde liegend. Er war vom Müll kaum zu unterscheiden. Pablo stolperte auf ihn zu und rief dabei laut seinen Namen. Er faßte ihn bei den Schultern und rüttelte ihn, bis Hernando langsam die Augen öffnete. Hernando stöhnte. Er starrte Pablo mit fiebrigen Augen an. «Mir ist so heiß!» sagte er leise. Sein Kopf fiel zur Seite. Laut rief Pablo um Hilfe. Als die Männer kamen, saß er ruhig neben seinem Freund. Einer der Männer riß Pablo zurück und beugte sich über Hernando.

«Bringt ihn zu mir!» hörte er seinen Vater sagen. Pablo lief hinter den Männer her. In der Hütte wurde Hernando von Margarita auf eine zerfetzte Decke gelegt. Die Männer verschwanden schweigend und eilten auf die Halden zurück. Pablo drückte sich in eine Ecke und beobachtete Margarita, wie sie Hernando untersuchte und dann in die Decke wickelte. Als Margarita ihn entdeckte, trieb sie ihn aus der Hütte. «Mach, daß Du rauskommst! Hilf Deinem Vater!» schrie sie ihm nach.

Pablo setzte sich aber auf einen Stein vor die Hütte und wartete. Er saß noch da, als es dunkel wurde und die Mülleute in das Mülldorf zurückkehrten. Sein Vater ging mit Don Calderon und einigen Männern in die Hütte. Sie beachteten Pablo nicht. Er traute sich nicht, den Männern zu folgen und blieb auf dem Stein sitzen. Es dauerte lange, bis die Männer aus der Hütte traten. Pablo lief auf seinen Vater zu und schaute in stumm an.

«Hernando wird sterben!» sagte sein Vater leise. Pablo unterdrückte seine Tränen. «Warum, Vater?» «Sein Arm! Es muß Schmutz in die Wunde gekommen sein. Er hat Fieber. Es gibt keine Hoffnung. Hernando wird sterben!» Pablo senkte den Kopf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Entschlossen blickte er seinen Vater an. «Wenn ich erwachsen bin, Vater, werde ich ‹el presidente›. Dann braucht hier niemand mehr zu sterben!»

Die Männer blickten zu Boden. Keiner von ihnen lachte. Pablos Vater nickte. Er sah seinen Sohn an. «Ja, Pablo, wenn Du erwachsen bist, wird Du ‹el presidente›!»



Erstellt: 28. Juni 2001 – letzte Überarbeitung: 28. Juni 2001
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