BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Nietzsches Spuren in Turin»
von Stefan Bärnwald
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Ecce Homo

Ich verdanke der Lektüre Nietzsches vor allem ein dionysisches Verständnis von Tragik fern allen Pessimismus, die Bejahung des Lebens jenseits aller Voreingenommenheiten. Die diesem Verständnis entspringende «Kunst zu trennen, ohne zu verfeinden» als Voraussetzung für eine «ungeheure Vielheit, die trotzdem das Gegenstück des Chaos ist» [2] Friedrich Nietzsche (1994): Ecce Homo. In: Jenseits von Gut und Böse und andere Schriften (Werke 3). Köln: Könemann Verlag, S. 421. , ist eine meiner wichtigsten Lebensweisen. Mit anderen Worten, Nietzsche war einer meiner wichtigsten Mentoren und ich habe ihm viel zu verdanken.

Als es mich nun beruflich für ein Wochenende nach Turin verschlug, nahm ich mit Freuden die Gelegenheit wahr, dort nach Nietzsches Spuren zu suchen, denn nirgendwo war Nietzsche so auf seinen Höhen, wie zum Jahreswechsel 1888/89 in Turin. Mit der am 30. September 1888 fertiggestellten «Götzen-Dammerung» war es ihm hier erstmals gelungen, mit dem Hammer zu philosophieren. Der Welt der Ideale, diesen Götzen, war nicht nur der Krieg erklärt, der erste Angriff war erfolgreich geführt. Um die nun folgende Herausforderung der Menschheit als Ganze taktisch vorzubereiten, hält der Ehrenmann Nietzsche es für angemessen, sich dem Gegner in den autobiographischen Skizzen «Ecce Homo» vorzustellen.

Ausführlich erläutert Nietzsche den Menschen, wie er wurde, was er ist. Als «Ecce Homo» im Dezember 1888 in seiner Wohnung in der Via Carlo Alberto VI beendet wird, scheint der große Mittag gekommen. Alles wird Überfluß, Wachsen, Licht. Vollkommene Tage, «wo alles reift». [3] Friedrich Würzbach: Nietzsche, Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten. München: Wilhelm Goldmann Verlag, S. 373. Die Metamorphose in den Übermenschen, die Verwandlung in den sich-selbst-gebärenden Gott als Einheit und Ursprung aller Dinge konnte beginnen.

Leider wurde daraus bekanntlich nichts. Machtlos gegenüber der groben Dummheit der Menschen stirbt der Übermensch noch vor seiner Geburt. Am vierten Januar 1889 muß er auf der Via Po, zwischen der Kirche Gran Madre di Dio und dem Palazzo Madama beobachten, wie ein Kutscher hemmungslos auf sein Pferd einschlägt, um es weiter voran zu treiben. Das Tier, erdrückt von seiner Last und gepeinigt von wüsten Schlägen, bietet ein allzumenschliches Bild tiefsten Elends. Nietzsche implodiert. Als allmächtiger Gott steht er diesem Bild des Jammers hoffnungslos gegenüber, als Ursprung aller Dinge ist er und nur er verantwortlich für die Qualen des Tieres. Nietzsche stürzt aus seinen höchsten Höhen in die tiefste Verzweiflung und versinkt in geistiger Umnachtung. Der ungeborene Zarathustra versteinert in seiner Verpuppung.


Abends auf der Pobrücke: Inmitten von Gut und Böse

Goethe hat einmal, ich weiß nicht mehr wo, geschrieben: «Alles was geschieht, ist Symbol, und indem es vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das übrige.» Demnach steht mein Aufenthalt unter einem guten Stern. Untergebracht in einem Hotel in der Via XX Settembre, dem Tag der Abreise Nietzsches zu seinem letzten Aufenthalt in Turin. Da freut sich der Freund von Synchronizitäten.

Nach der Erledigung des Alltäglichen am Abend der erste Spaziergang, am Ufer des Po entlang zur Ponte Vittorio Emanuele I, Nietzsches abendlichem Lieblingsort. Freier Blick auf die offene Piazza Vittorio Veneto und das Turiner Hügelland, darunter das heraklitische Fließen des ewig gleichen und doch immer neuen Flusses Po. «Abends auf der Pobrücke: herrlich! Jenseits von Gut und Böse!» [4] Anacleto Verecchia (1986): Zarathustras Ende. Böhlau Verlag. Zitiert nach: Hartmut Lange, Verstummen unter Zypressen, Friedrich Nietzsches letzte Tage in Turin, www.virtusens.de/walther/turin2.htm Das war natürlich einmal. Die Piazza Vittorio Veneto ist heute ein riesiger Parkplatz, die Ponte Vittorio Emanuele I Teil einer verstopften Zubringerstraße, das Turiner Hügelland mehr oder minder verbaut. Und selbst der Po will an diesem Abend nicht so recht, eine Trockenperiode hat ihn zu einem wenig erbaulichen Rinnsal erniedrigt. Aber das tut dem Erlebnis keinen Abbruch, an einem erhabenen Ort den Gedanken Auslauf zu gewähren. Das kakophonische Treiben entschwindet in den Hintergrund, verdrängt von einer Woge des Respekts gegenüber dem Navigator heraus aus den moralinvermatschten kleingeistigen Scheingefechten. «Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.» [5] Friedrich Nietzsche (1994): Jenseits von Gut und Böse. In: Jenseits von Gut und Böse und andere Schriften (Werke 3). Köln: Könemann Verlag, S. 93.

Seltsam, daß eine so einfache Wahrheit heute unverständlicher denn je zu sein scheint. Irgendetwas muß daran sein, daß Nietzsches Philosophie mehr erlebt, als verstanden sein will. Denn gerade das Erleben ist es, das wir uns durch unser wichtelwichtiges Treiben immer mehr verstellen. Wir selbst nehmen uns die letzten kraftvollen Orte der Ruhe, wir selbst verbauen uns den Blick ins Freie. Eine Ahnung von Mitleid stimmt mich, an diesem Abend bin ich wohlmeinend mit uns Menschen. Trotzdem, oder gerade deswegen, gehe ich wieder am verlassenen Poufer entlang zurück zum Hotel. Nur nicht die Melancholie von zu vielen Gesichtern in Bitterkeit verwandeln lassen.


Nietzsches bewiesener Ort

Am folgenden Morgen zunächst ein Schlendern und Flanieren. Turin-Impressionen, heute vor allem eine Stadt der Kontraste. Würdige romanische Kirchen neben blinkenden Glücksspielhallen, moderne Kunst in barocken Pallazi, prunkvolle Innenhöfe beschallt vom Gameboy des Pförtners. Über allem, leider, eine dichter werdende Dunstglocke, der Smog, mit dem sich Turin den Atem und die Sicht auf Alpen und Himmel nimmt.

Aber daran will ich heute nicht denken. Heiteren Schrittes geht es zu Nietzsches «bewiesenem Ort» [6] Friedrich Würzbach, a.a.O. S. 371. , zur Piazza Carlo Alberto und Nietzsches Residenz in der Via Carlo Alberto 6, III. Ein in die Lüfte entschwebender Taubenschwarm begrüßt mich am Reiterstandbild von Carlo Alberto, dahinter im obersten Stockwerk der Balkon von Nietzsches Wohnung. Angenehm unscheinbar, nichts deutet darauf hin, daß hinter diesen verwitterten Fensterrahmen und den verschlissenen Vorhängen eine der größten Schlachten verloren wurde, die je ein Mensch gekämpft hat.

Schönes Intermezzo: Im Erdgeschoß unter Nietzsches Wohnung findet sich heute das edle Antiquariat Gilibert. Leider gibt es keine italienische Ausgabe eines Nietzsche-Werkes zu erstehen, dafür die französische Originalausgabe von Octave Mirbeaus «Le Jardin des Supplices», mein Lieblingserotikbuch, inklusive Aquarellzeichnungen auf Pergamentpapier. Sonst kein Freund von Memorabilien, freue ich mich heute doch, ein wenig von dieser guten Zeit in dem Buch kondensieren zu können. Der freundliche Antiquar macht mich noch darauf aufmerksam, daß direkt neben dem Seiteneingang des Antiquariats eine Gedenktafel angebracht ist. Hocherfreut nehme ich zur Kenntnis, daß die Stadt Turin im Frühling 1988 die einhundert Jahre zurückliegende Vollendung von «Ecce Homo, il libro della sua vita» in diesem Haus würdigt. Schön zu sehen, das der Prophet auch heute noch in der Fremde einen guten Namen hat.


Erinnerungen, an niemand anderen als Zarathustra

Es geht auf die Mittagsstunde zu, Zeit für den Höhepunkt, im wahrsten Sinne des Wortes: Die Mole Antonelliana, Wahrzeichen von Turin, ein dickbäuchiger Turm mit festem Fundament, aus dem grazil eine schmale Spitze in den Himmel ragt. Mit 163 Metern auch heute noch das höchste Gebäude der Stadt. In der Spitze eine Aussichtsplattform mit Blick auf das Turiner Hügelland, über das emsige Treiben der Stadt hinweg bis zu den Turiner Schneealpen, auf die alten römischen Therme, den Po, kurz, freie Sicht für den klaren Blick Zarathustras: Die Mole Antonelliana «erinnert an gar nichts außer an meinen Zarathustra. Ich habe (sie) Ecce Homo getauft». [7] Anacleto Verecchia, a.a.O.

Welche Erwartung, ein Turm der Erinnerungen an Zarathustra, mit dem Namen der Autobiographie Nietzsches. Punkt 12 auf der Mole: «Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit». [8] Friedrich Nietzsche (1994): Götzen-Dämmerung. In: Jenseits von Gut und Böse und andere Schriften (Werke 3). Köln: Könemann Verlag, S. 305. Tatsächlich natürlich ein Tiefpunkt: Kein freier Blick, nirgends. Statt dessen die Dunstglocke, die den Himmel, die Alpen, alles verschlingt. Wie nicht anders zu erwarten. Aber mensch wird ja wohl mal ein wenig naiv sein dürfen. Wieder allzu wenig von Nietzsches Aura, es bleiben nur ein paar entfleuchende wehmütige Gedanken. Dies offenbart also heute der Blick in und über den Abgrund, Sinnbild des großen Rätsels, des großen Mittags, «wo sich die Auserwähltesten zur größten aller Aufgaben weihen» [9] Friedrich Nietzsche (1994): Ecce Homo. In: Jenseits von Gut und Böse und andere Schriften (Werke 3). Köln: Könemann Verlag, S. 440. : nichts als ein kranker trüber Nebel. Ich sehe in diesem scheußlichen Dunst, der die Mole, der den Zarathustra umhüllt, eine Wolke von Erbärmlichkeit, mit der wir Menschen das Leben vernebeln. Was bleibt? Nietzsche würde sagen, Einsamkeit. Sollen die Menschen das Leben erniedrigen, wie sie wollen, da ist immer noch das dionysische Ja zum Leben, zu dem Nietzsche uns auffordert. Hätte ich dieses Ja, das die allzumenschlichen Nebel lichtet, nicht schon vor langer Zeit gelernt, wäre ich hier auf der Mole Antonelliana vermutlich zutiefst deprimiert worden. So gebe ich mich statt dessen wieder einer verklärten Melancholie hin, die der Bitterkeit keinen Raum gewährt. Die Farbe der Schwarzgalligkeit in den wenigen Momenten, in denen es gelingt, sich das Leben schön zu reden.


Abstieg und Höhepunkt

Eigentlich war dies das Ende meiner kleinen Exkursion auf Nietzsches Spuren in Turin. Der Fahrstuhlwärter auf der Fahrt hinab von der Mole erklärt mir mit meiner freundlichen Zustimmung, daß der Smog über Turin hohe Luftfeuchtigkeit sei, und ich das nächste Mal doch besser morgens käme, um den faszinierenden Ausblick zu erleben. Nun ja. Im Inneren der Mole Antonelliana befindet sich seit einigen Jahren das Museo Nazionale del Cinema. Obwohl ich von meiner Filmleidenschaft eigentlich seit längerem entwöhnt bin, besuche ich das Museum, weil es mir von einer entzückenden Turinerin wärmstens empfohlen wurde. Eigentlich hat es ja auch schon wieder Symbolcharakter, im Inneren der Mole, die Nietzsche Ecce Homo getauft hat, ein Filmmuseum zu finden. Und, sollte eine der geneigten LeserInnen je nach Turin kommen, bitte, besucht dieses Museum. Es ist, mit Verlaub, eines der gelungensten Gesamtkunstwerke, das ich bislang erleben durfte. Bitte die Wortwahl zu beachten, ich schreibe ausdrücklich erleben. Denn dieses Museum wurde mit großem Herzen und noch mehr Verstand konzipiert, und ist schlichtweg ein Ereignis, das absolut nicht in Worte gefaßt werden kann.

In der ersten Etage findet sich eine große Sammlung optischer Geräte und Apparate, Vorläufer der Filmkamera vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Da lacht die verspielte Kinderseele, all die Geräte und optischen Effekte, die sie zumeist nur aus Büchern und Werner Nekes brillantem Film «Uliisess» kannte, in natura betrachten zu können. Große Freude. Und auch hier wieder der – natürlich vollkommen willkürliche – Bezug zu Nietzsche, für den ja nicht die Welt der Erscheinungen, sondern gerade die wahre Welt nichts anderes als eine «moralisch-optische Täuschung» [10] Friedrich Nietzsche (1994): Götzen-Dämmerung. In: Jenseits von Gut und Böse und andere Schriften (Werke 3), Köln: Könemann Verlag, S. 302. ist. Höchst erbaulich.

Mit dem Fahrstuhl geht es hinauf in die nächste Etage – der Fahrstuhlwärter scheint irrtümlich ein Stockwerk zu überspringen – und ich lande auf der dritten Ebene. Aber die Dramaturgie stimmt. Hier gibt es, perfekt in die Wölbungen der Mole Antonelliana integriert, einen Rundgang. In zahllosen Nischen finden sich kleine Erker, die bestimmten Aspekten der Filmgeschichte gewidmet sind. Regisseure, Diven, Tricktechnik, Aufnahmeverfahren, Drehbücher etc. Als Hintergrund dienen Leinwände, auf denen kurze zusammengeschnittene Trailer zu dem jeweiligen Thema gezeigt werden. Auch hier alles mit viel Liebe und Verständnis für Zusammenhänge arrangiert.

Meine Melancholie kehrt zurück, wie können die gleichen Menschen, die eine ganze Stadt, die ein ganzes Leben vernebeln, ein solches Kunstwerk erschaffen? Dieses Rätsel werden wir Menschen wohl mit in unser selbst geschaufeltes Grab nehmen. Meine pathetischen Gedankenspielereien werden von passender Musik untermalt, die ein imposantes Spektakel ankündigt. Die Filmsequenzen sind beendet. Die Leinwände werden hochgefahren, und geben überraschend die Sicht auf den Innenbereich der Mole Antonelliana frei. Hier erst zeigt sich das Zentrum der Ausstellung und die Mole Antonelliana in ihrer ganzen Pracht. Am Rand des riesigen, bis hoch in das Gewölbe der Mole offenen Raumes sind noch einmal Leinwände angebracht, auf denen Filmgeschichte präsentiert wird. In zahllosen Katakomben finden sich kleine Filmsäle, die sich erneut bestimmten Genren widmen. Schließlich dient in regelmäßigen Intervallen das Gewölbe hoch oben in der Spitze der Mole selbst als Projektionsfläche. Welch' eine Inszenierung, perfektes Zusammenspiel klassizistischer Architektur und modernster Technik.

Und zu meiner Freude bekomme ich am Ende auch noch den letzten Beleg dafür, daß die Kuratoren dieses Gesamtkunstwerks tatsächlich auf das Genaueste wußten, was sie taten. Im Mittelpunkt dieses riesigen inneren Raumes, sozusagen als das Herz der ganzen Ausstellung, thront ein geflügelter und gehörnter Götze, ein riesiger goldener Moloch, der mit geöffneten Armen die Huldigungen seiner Besucher entgegennimmt. [11] Eine Kulisse aus Gabriele d'Annunzios Film «Cabriria» von 1914. Auf was zeigt dieses letzte, endgültige Symbol? Erscheinungsidolatrie. Da haben wir es in den letzten hundert Jahren ganz von allein geschafft die Welt der Ideale, diese Götzen, in Schutt und Asche zu legen. Aber was tun wir Menschen? Wir erklären den Schein zum Goldenen Kalb, und errichten dem Film, Motor und Vollendung der Erscheinungsidolatrie, einen neuen Tempel. Anstatt mit der wahren Welt auch die scheinbare abzuschaffen, wie Nietzsche es erhofft hat, vergöttern wir heute schlicht und einfältig die Erscheinungen, nicht weniger oder mehr als die andere Seite der ewig gleichen Medaille. Eingeschlossen in unseren selbsterrichteten Tempel der Erscheinungen sind alle Türen fest vernagelt und das Leben, was immer es sein mag, rückt in immer weitere Ferne. Und verschwindet hinter dem Horizont.

Arme Menschen. Aber können wir anders? Wer weiß.

«Nicht still, stark, glatt, kalt, zum Bild geworden, zur Gottes-Säule, nicht aufgestellt vor Tempeln, eines Gottes Türwart: nein! feindselig solchen Tugend-Standbildern, in jeder Wildnis heimischer als in Tempeln.» [12] Friedrich Nietzsche (1994): Dionysos-Dithyramben. In: Jenseits von Gut und Böse und andere Schriften (Werke 3). Köln: Könemann Verlag, S. 497.



Erstellt: 29. Januar 2002 – letzte Überarbeitung: 30. Januar 2002
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