BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Lissabon: Der Garten des Königs»
von Stefan Bärnwald
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Habe nicht mitbekommen, dass gestern Metallica und Sepultura gespielt haben. Ernste Verstimmung. Aber da ich ohnehin nicht vor hatte, beim Besuch in Portugal meine altersschwache Punkrock-Maske aufzusetzen, gestatte ich mir keinen Trübsinn. Der ursprüngliche Plan war, den feinsinnigen Bildungsbürger zu spielen, um mal wieder einen Beitrag für das kultivierte Publikum dieses unzeitgemäßen Refugiums zu schreiben.

Keine sonderlich eloquente Einleitung. Vielleicht wurde trotzdem die Maske und das Rollenspiel bemerkt. Richtig, es ist Lissabon und wir befinden uns auf den Spuren Fernando Pessoas.

Der Klappentext von Pessoas «Mein Lissabon» [1] Fernando Pessoa (2001): Mein Lissabon. Was der Reisende sehen sollte. Zürich: Ammann Verlag. Geschrieben um 1925. verspricht vollmundig die Auslösung von Saudade, dem typischen Lissaboner Lebensgefühl. Saudade meint eine Wehmut und Sehnsucht, die von dem selbstbewussten Wissen getragen wird, dass sie niemals erfüllt wird. Meine Grundstimmung: Zielloses Fernweh zu Orten, von denen ich weiß, dass es sie nicht gibt.

«Ein Reisender, unnütz für dich und mich,
Ausländer hier wie überall.»
 [2] Fernando Pessoa (2001): Mein Lissabon, a.a.O. Seite 143.

Leider ist Pessoas Reiseführer eine Enttäuschung. Nirgendwo Saudade. Eher eine Liste von Sehenswürdigkeiten für Touristen, die sich gerne Fassaden anschauen und weniger an den Stimmungen dahinter interessiert sind. Ist bei mir umgekehrt. Wohlwollend könnte vermutet werden, dass Pessoa in diesem Reiseführer Lissabon selbst sprechen lassen wollte, um jede überflüssige Einmischung zu vermeiden. Kaum befriedigend. Zum Glück bietet die Ausgabe zusätzlich eine Sammlung seiner verstreuten Gedanken zu Lissabon. Denen entströmt Saudade. Ich suche mir die interessantesten Anlaufstellen heraus und streune durch Pessoas Stadt.

Ausdruck der Saudade-Stimmung ist der Fado. Fado meint Schicksal. Ich würde es mit Fatum übersetzen. Der Unterschied, den ich kennzeichnen möchte, ist der zwischen einer leidenschaftslosen Hinnahme des Unvermeidlichen und der antiken Hingabe an eine höhere Bestimmung. Fado ist Hingabe. Während der Fado in vielen Ohren traurig klingt, ist er für Pessoa weder fröhlich noch traurig, sondern Ausdruck einer Unterbrechung.

«Geschaffen in einem Augenblick der Nicht-Existenz der portugiesischen Seele,
als sie sich nach allem sehnte, ohne die Kraft zu haben, es zu verlangen.
Fado ist die Erschöpfung der starken Seele,
Portugals mißtrauischer Blick auf einen abwesenden Gott,
an den einst geglaubt wurde.»
 [3] Zitiert in der Einladung zum Fado-Abend des Café Luso, Travessa da Queimada, 10, Lissabon. Übersetzung vom Verfasser. Nicht dieses Café besuchen! Die guten Fado-Bars sind im alten Fischerviertel, dem Alfama.

Weniger metaphysisch beschreibt das Lissaboner Fado-Museum die Musik als ein melancholisches Klagelied, das die Gefühle einer einfachen Existenz von Tag zu Tag besingt: Fröhlichkeit, Traurigkeit, Schmerz, Leiden, Tod, Liebe und Eifersucht. Die wichtigen Dinge. Unvermeidlich ist also das erste Ziel eines der Fadohäuser. Ohne weiter darauf einzugehen vergessen wir den Abend. Die touristische Aufbereitung existentieller Gefühlsausdrücke hat mich in Depressionen gestürzt.

Doch das Schicksal meinte es gut. Am Tag darauf ein Ausflug zu ausgewählten Lieblingsorten Pessoas. In der U-Bahn erklingen im Rücken entfernte Akkordeonklänge. Wunderschön, wenn es nicht für Geld wäre. Mein erster Gedanke. Ein abgrundtief dummer Gedanke, wie mich ein Kind auf dem Nachbarsitz belehrt. Das Kind hört die Musik, denkt nicht an Geld und freut sich an der Musik. Meine Lektion in Saudade. Mir ist der Zugang zur Schönheit mit schäbigen Gedanken verstellt. Saudade könnte auch die Sehnsucht nach der unbefangenen Offenheit sein, die wir einmal hatten und für immer verloren haben. Wehmütige Erinnerungen an einen Garten, der uns gehörte, als wir noch eine ungebrochene Beziehung zur Welt hatten. Das Königskind hört Musik. Nicht mehr und nicht weniger.

«I know it was spring
And the garden of the King...

What a blue so blue it had,
There, the blue of the sky!»
 [4] Fernando Pessoa (1980): Auszug aus dem Gedicht von 1916 "I don't know, ama, where it was". In: The Surprise of Being. 25 Poems, S. 23. London: Angel Books.

Der Anblick des Akkordeonspielers: Noch ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt. Kleiner als sein entfaltetes Akkordeon. Die dunkelsten Augen der Welt. Auf seinem Akkordeon thront ein Chihuahua-Mischling mit der gleichen Augenfarbe. Saudade?

Mich zieht es in der Stadtwüste ins Grüne. Nach dem Besuch einiger Plätze - «nutzlose Lichtungen, im Zustand der Erwartungen» [5] Fernando Pessoa (2001): Mein Lissabon. A.a.O. Seite 113. - und Aussichtspunkte auf die vielen Gesichter von Lissabon - «Kraft seiner Verschiedenheit wirkt das monoton» [6] Fernando Pessoa (2001): Mein Lissabon. A.a.O. Seite 142. - das eigentliche Ziel meines Ausflugs: Der Botanische Garten von Lissabon. Laut Pessoa ein Garten Eden mit großem Reichtum an Vegetation.

Der Eintritt in den Garten Eden kostet einen Euro und 50 Cent. Schon mal gut zu wissen. Ab jetzt immer Kleingeld dabei haben.

Mitten in ihrem Zentrum verschwinden die Geräusche der Stadt in der Ferne. Wie erhofft ist der Garten Eden nahezu menschenleer. Die wenigen Besucher begegnen sich mit Respekt und Schweigen. Der Hanglage des Gartens entspringt ein Crescendo aus Grüntönen, untermalt von vielfarbigen Vogelstimmen. Tauben trinken und baden in schmalen Bachläufen. Alles ist gepflegt und behütet. Jede Pflanze hat ihren bewiesenen Raum, in dem sie sich frei entfaltet. Der schönste von Menschenhand geschaffene Ort, an dem ich bislang verweilen durfte. Der Himmel auf Erden? Wäre meine Partnerin hier, würde es mir vielleicht über die Lippen kommen. Immerhin finde ich mich gerade mit den Knien im Moos und schaue den Spatzen zu, wie sie in den violetten Wipfeln der Jacaranda-Bäume spielen.

Vielleicht ist die Welt wirklich nur dummes Zeug, das uns die Sicht auf einen gütigeren Gott verstellt?

Der Gegenbeweis für meine gnostische Anwandlung lauert hinter der nächsten Beetumrandung. Die verfallene alte Sternwarte im Mittelpunkt des Gartens steht wie ein Mahnmal für die zerrüttete Beziehung zwischen uns und den Sternen. Doch hier und jetzt bin ich nicht gewillt, Zeichen zu deuten.

Epiphanie:

«Some day would come,
Something making
More joy
Of all that joy
(Child, the rest is death ...)»
 [7] Fernando Pessoa (1980) Auszug aus dem Gedicht von 1916 "I don't know, ama, where it was". In: The Surprise of Being. 25 Poems, S. 23. London: Angel Books.




Erstellt: 11. Juni 2003 - letzte Überarbeitung: 12. Juni 2003
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