BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Mit Fernando Pessoa auf dem Zen-Weg»
von Edna Lemgo
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Wege weisen Richtungen und stiften Orientierung. Dies mag ein Grund sein, warum Lebensläufe gerne als Wege umschrieben werden. Denn auch Wege führen eher selten zu Zielen. Manche führen im Kreis, andere leiten in eine Sackgasse, und nicht selten endet ein Weg im Nirgendwo.

Eine Sonderstellung unter den Wegen nimmt der Rundwanderweg ein. Er führt über Stock und Stein zurück zum Ausgangspunkt der Wanderung. Anfang und Ende fallen ineinander, und so ist bei der Rückkehr der Ort des Anfangs nunmehr auch ein anderer. Diese Erfahrung ist vermutlich das eigentliche Ziel einer Rundwanderung.

Der Zen-Weg ist ein solcher Rundwanderweg. Er beginnt bei den unmittelbaren Dingen und führt in den Irrgarten der Bedeutungen, um die Wanderer von dort wieder zurück in das unvermittelte Dasein zu bringen. Bei der Rückkehr erfahren die Wanderer, dass das gleiche Dasein auch ein zu behütendes Anwesen ist.

Der Zen-Rundwanderweg bietet auf dem ersten Teil der Strecke freie Sicht auf Berge und Gewässer, die - fraglos - Berge und Gewässer sind. Bei der Annäherung an den Wendepunkt verhüllen immer dichtere Wolken den Blick auf die Berge, und Nebel steigt aus dem Gewässer auf. Die Sicht wird schließlich so schlecht, dass sich den Wanderern die Frage stellt, ob die Berge noch die Berge sind, und das Gewässer das Gewässer. Nach der Kehre lichten sich die Schleier mit jedem Schritt zurück zum Anfang der Wanderung, bis - fraglos - die Berge eben wieder die Berge sind, und auch das Gewässer wieder das Gewässer. Im Lichte der Erfahrung, dass Berge und Gewässer auch nicht sein könnten, schenken ihnen die heimkehrenden Wanderer eine neue und behütende Achtsamkeit.

Eine Herausforderung auf dem Zen-Weg ist das nahezu vollständige Fehlen von Wegweisern. Da diese Route immer seltener beschritten wird, besteht zudem nicht oft die Möglichkeit, die Richtung zu erfragen. Und auch wenn erfahrenere Wanderer auf dem Zen-Weg angetroffen werden, reagieren sie meist ausweichend oder antworten betont widersprüchlich. So bleibt die Verantwortung für die Auswahl aus den Möglichkeiten, die die nächste Abzweigung bietet, allein in den Händen der Fragenden. Daher müssen unerfahrene Wanderfreunde außerordentlich dankbar sein, wenn ihnen freundlicherweise zumindest die grobe Richtung zu den wichtigsten Stationen des Zen-Wegs gewiesen wird.

Obwohl Fernando Pessoa diesen Rundwanderweg vermutlich nie beschritten hat, entwirft die Poesie seiner Heteronyme wie kaum eine andere die Landschaften, die sich dem Blick der Wanderer von den Aussichtspunkten entlang der Strecke bieten. Einige der fiktiven realen Autoren, die er sich für die verschiedenen Verkörperungen seines Denkens schuf, scheinen in den Regionen entlang des Zen-Wegs beheimatet zu sein.

Alberto Caeiro besingt das unmittelbare Dasein im Anfang des Weges. Fern jeder Religion und Metaphysik, fern jeder Deutung und Hineinlegung und fern von Hoffnung und Verzweiflung betrachtet er die Dinge - und sieht nur die Dinge.

Sachte, sachte, sachte
Weht ein sachter Wind,
Weht vorüber, sacht.
 [1] Alberto Caeiro (2004): Poesie. Zürich: Ammann Verlag. Seite 43.

Àlvaro Coelho de Athayde, Baron von Teive, verachtet die Dinge und verliert sich im Irrgarten des Daseins. Er setzt die Distanz zwischen ihm und den Dingen absolut, um sein Dasein bis in den letzten Winkel mit dem kalten Stolz des Verstandes zu durchleuchten. So lenkt der Baron die Wanderer in eine Sackgasse. Am Ende bleibt ihm - als letzter Akt der Selbstbestimmung - nur noch der hochmütige Selbstmord.

Ich habe, wie mir scheint, die volle Entfaltung meines Verstandes erreicht. Und daher werde ich mich töten. [2] Baron von Teive (2004): Die Erziehung zum Stoiker. Zürich: Ammann Verlag. Seite 53.

Ricardo Reis weist den Wanderern den Weg heraus aus dieser todbringenden Sackgasse. Sein Werk ist der Versuch, durch die Vermeidung von Schmerz und nützlicher Tätigkeit zurück zu der unmittelbaren Stille zu finden, die im Werk seines Meisters Alberto Caeiro ruht und strömt.

Laß den Wind vorüber wehen
Stell ihm keine Fragen.
Sein Sinn ist nur
Der Wind zu sein, der weht ...
 [3] Ricardo Reis (2005): Poesie. Zürich: Ammann Verlag. Seite 111.

Der Wind, der doch eigentlich nur sachte weht, trägt für Ricardo Reis noch einen Sinn. Doch er weist den Wanderern die richtige Richtung und lässt das Fragen. Die entschiedene Gelassenheit, die sie am Ende des Zen-Wegs erwartet, kann nicht mehr weit sein.



Erstellt: 12. Juni 2006 - letzte Überarbeitung: 14. Juni 2006
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