BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Amerikanische Bilder: Achter Teil»
von Lisa Blausonne
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Im Postamt werde ich behandelt wie ein Kleinkind, das noch nicht viel versteht und etwas langsam im Denken ist. Nachdem ich sehr lange mit zwei schweren Paketen in der Schlange stand, möchte ich die Geburstagsgrüße an meine Freundinnen Gesa und Sabine nach Deutschland senden. Der Postangestellte fragt mich: „Wo soll das denn hin?“ Ich antworte: „Nach Deutschland,“ und denke, dass das ja gut lesbar auf den Paketen steht. „Ahaaaa, nach Deutschland. Soso,“ sagt er. „!?“ „Warum habe Sie diesen Zettel für das Paket so ausgefüllt?“ Es war einer von 12 verschiedenen Zetteln, die sich am Eingang des Postamtes finden. Ich antworte: „Weil ich es so aus Deutschland gewohnt bin.“ Was sollte ich sonst sagen? Ich habe einfach den Zettel genommen, der für mich am ehesten passte. Der grauhaarige Postangestellte sagt: „Schauen Sie, Sie sind gar nicht in Deutschland. Sie sind in Amerika.“ Ach! Weiter säuselt er betont langsam: „Und hier, in Amerika, müssen Sie das korrekte Zettelchen ausfüllen“. Aha! Und welches ist das? „Sie müssen Ihren Absender hier auf das grüne Feld aufschreiben und den Empfänger auf das blaue. Das weiß man doch. Schauen Sie, es ist ganz einfach. Geben Sie sich einfach etwas Mühe. Wiegen müssen Sie das auch. Ja, ja, stellen Sie sich bitte wieder hinten an.“ Ich will ihn am liebsten anschreien, dass ich einen Doktorgrad trage, dass ich an der Uni gelehrt habe, dass ich eine erfolgreiche Frau bin und es auch ansonsten einige Beweise gibt, die belegen, dass ich NICHT DÄMLICH bin, nur weil ich die Regeln auf diesem Postamt noch nicht beherrsche und weil mir nicht sofort die richtigen Vokabeln einfallen, wie zum Beispiel „Überseepaketabsenderzettel“. Ich hole tief Luft und denke, dass dies wohl eine interkulturelle Erfahrung ist. Ich gelobe: Ich werde nie wieder vorschnell von der Nicht-Beherrschung einer Sprache auf die Person schließen. Wenn jemand langsam spricht und die offensichtlichen Regeln hinterfragt, kommt er eventuell aus einer anderen Kultur.

Zur Beruhigung fahre ich abends zum Tangotanzen. Tango ist auf der ganzen Welt zu Hause und erhebt sich jenseits einer Sprache mit Vokabeln und Grammatik über die nationalen Grenzen. Der argentinische Tanz zu der eindringlichen Musik führt die Menschen zusammen. Beim Tanzen vergesse ich sogar manchmal, in welchem Land ich mich befinde und spreche dann ganz selbstverständlich auf Deutsch mit dem Tänzer, bis ich seinem verständnislosen Gesicht ansehe, dass ich auf einem anderen Kontinent bin. Manchmal sitze ich auch nur da, lausche dem traurigen Bandoneon und fühle mich getröstet. Es ist die Musik der europäischen Auswanderer, und ich bin gewahr, dass ich auch einer bin, wenngleich natürlich zu weit einfacheren und bequemeren Bedingungen. Aber auch auf den Milongas herrschen eigene Regeln, die sich nicht sofort erschließen. In Deutschland wie in Argentinien ist es eine Konvention, dass sich Tänzer rechts und links auf die Wange küssen, wenn sie sich wieder sehen und schon einmal miteinander getanzt haben. Hier mache ich das auch und schrecke zurück, wenn mein Gegenüber stocksteif mit Erstaunen im Gesicht vor mir steht oder seine Ehefrau die Hände vor Entsetzen in die Luft reckt und versucht, sich zwischen uns zu schmeißen. Küssen in der Öffentlichkeit ist in den USA nicht gerade unheikel.

Manche Milongas – also offene Tango-Tanzabende – finden in Tango-Tanzschulen statt; so wie bei uns in Deutschland auch. Manche aber auch in der Kirche. Letztes Wochenende haben Paul und ich eine Milonga in einer Baptisten-Kirche besucht, unter dem bunten Bild mit der Schrift „Jesus is in music“ habe ich mich nicht sonderlich wohl gefühlt. Dort lernten wir Thorsten und Imke kennen, die mit einer Gruppe von deutschen Bio-Wissenschaftlern nach San Francisco umgezogen sind. Genforscher zieht es nach San Francisco. Und Kirchen scheinen ein beliebter Ort jeglicher Veranstaltung zu sein. Es gibt auch so viele davon. Mit dem Goldrausch 1849 kamen die Einwanderer und brachten ihre Religionen mit. Es gibt Katholiken, Baptisten, Methodisten, Lutheraner, Juden, Presbyterianer, Anhänger der Pfingstkirche, Episkopale und Angliker, Mormonen, Anhänger der Churches of Christ, Zeugen Jehovas, Muslime, Buddhisten, Hindus und religionslose Amerikaner; die erstgenannten sind die häufigsten, die letztgenannten die am wenigsten häufig auftretenden. Auch mein Meditationskurs findet in einer Episkopal-Kirche statt. In dem Kurs befinden sich Menschen jeden Alters, jeder Hautfarbe und mit ihren eigenen Motiven. Der Lehrer Howard bietet den Kurs seit über 23 Jahren an, jeden Dienstag. In den USA gibt es viele vor allem jüdische Meditationslehrer. Direkt vor Howard sitzt konfrontativ ein mittelalter Mann mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn. Als Howard ihm freundlich zunickt, reagiert der Mann nicht. Ebenfalls in direkter Nähe sitzt eine junge langhaarige Frau, die während der Meditation zusammensackt und schläft. Sie wird zwischendurch wach, aber schläft auch immer wieder ein. Über Buddha zu sprechen und unter Jesus zu sitzen löst bei mir doch eine gewisse Ambivalenz aus. Die Miete sei günstig, erklärt mir Howard.

„5 Jahre Irakkrieg“ – wir sehen in der Stadt kleine Versammlungen von Menschen, die „Peace“-Schilder hochhalten. In San Francisco sind an jenem Gedenktag von morgens 6 bis mittags hunderte Demonstranten im Finanzdistrikt festgenommen worden.

Am Ostersonntag fahren Paul und ich mit den Rädern zum Mission Dolores Park und sind überwältigt von dem Anblick, auf den wir nicht gefasst waren: Der weitläufige Park ist übersät mit feiernden Menschen, die in bizarren Kostümen stecken, in der Mitte des Parks stehen Boxen, aus denen Salsa und Latino-Musik quillt, zu der Menschen in Prinzessinnen-Kostümen, Scheichgewändern oder Osterhasenanzügen ausgelassen tanzen. Es ist auch eins der Lieblingsfeste der Schwulen und Lesben und Transvestiten, die mit Abstand die aufwändigsten Kostüme und Schminkkünste zur Schau tragen. Wir setzten uns zu einer Gruppe, die entspannt auf dem Rasen picknickt und mit einer Gitarre klimpert. Es riecht nach Marihuana-Rauch und Milchkaffee. Der Mission Dolores Park befindet sich nahe der gleichnamigen Kirche, dem ältesten Gebäude San Franciscos; ihr Dach wird noch von den ursprünglichen Redwood-Stämmen getragen. Der Grundstein für die Mission Dolores Kirche wurde 1776 von den Spaniern gelegt, als sie die Indianer „missionierten“. Damit ist San Francisco in den Ursprüngen eine spanische Stadt.

Im angrenzenden Mission-Viertel fahren wir an einer Reihe mexikanischer, peruanischer, kubanischer und brasilianischer Restaurants vorbei, um uns einige Wandgemälde, so genannte Murals, anzuschauen. Nach einer alten lateinamerikanischen Tradition werden auf den Wänden von Gebäuden das Alltagsleben und Träume, politische Ansichten und Erfolge von Völkern illustriert, manche bunte Gemälde dienen auch einfach der Verschönerung und Inspirierung.

Als wir zu Hause ankommen, finden wir einen Zettel vom Postboten im Briefkasten mit dem geheimnisvoll klingenden Kommentar „hinter Gartenmauer“. Als wir nachschauen, finden wir hinter der Gartenmauer das Geburtstags-Geschenk meiner Schwester an mich. Er hat einfach das Paket, auf das ich schon so gespannt gewartet habe, hinter die recht hohe Mauer geschmissen. Paul und ich können darüber lachen, zumal der Inhalt unversehrt ist.



Erstellt: 10. Mai 2008 – letzte Überarbeitung: 13. Mai 2008
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