BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Amerikanische Bilder: Neunter Teil»
von Lisa Blausonne
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Hier sind sie: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Manchmal muss ich mich zwicken, um zu realisieren, dass ich hier bin, weil ich beginne, mich an unser neues zu Hause zu gewöhnen. Ich habe einen neuen Rhythmus gefunden, der meinen Alltag in die Bereiche „Schreiben und Arbeiten“ sowie „Yoga und Amerika-Entdeckungsreise“ einteilt. Ich lebe also amerikanischen Alltag, und dies im Gleichklang mit meiner Beziehung zu Paul; wenngleich Alltag selten mit Paul stattfindet, da er meist in Projekten arbeitet, die weiter weg sind. Neue Gewohnheiten sind bereits aufgebaut und neue Menschen kennen gelernt. Die Sprache stellt keine Besonderheit mehr dar, sie wird verwendet wie ein nützliches Instrument; wenn ich über ein bestimmtes Wort stolpere, das ich noch nicht kenne, knirscht das Zahnrad des Instrumentes manchmal, aber das irritiert mich nicht mehr so wie am Anfang.

In dem interkulturellem Training, das Pauls Firma netterweise für uns beide angeboten hat, haben Paul und ich gelernt, dass der Veränderungsprozess eines neu eingewanderten Menschen aus einer anderen Kultur wellenförmig zwischen positiv erlebter „Aufregung“ und aversiv erlebter „Angst“ stattfindet. Dabei macht der Einwanderer eine Art Achterbahnfahrt durch, während die Emotionen „Faszination bei Ankunft“, „Kultur-Schock“, „oberflächliche Gewöhnung“, „innerer Schock“, „Akzteptanz und Anpassung“, „Angst vor Rückkehr“, „Schock bei Reintegration in Heimatland“ in eben dieser zeitlichen Reihenfolge durchlebt werden. Es war für uns hilfreich zu hören, dass Menschen bei der Eingewöhnung auch mal müde und gereizt sein dürfen, da dies ein normaler Abwehrmechanismus gegenüber zuviel Neuem sei.

Wir befinden uns auch in Kalifornien noch in der „kalten Jahreszeit“, aber wir Europäer freuen uns so über die Sonne im Garten, dass wir am Wochenende schon unseren gelb-weißen Sonnenschirm auspacken und darunter wonnig grinsend frühstücken. Wir sind die einzigen weit und breit. Zu Hause schneit es gerade; ich habe schon meinen ersten Sonnenbrand auf dem Arm.

Um meine Sozialversicherungsnummer zu erhalten, fülle ich ein Dokument aus. Hier gibt es ein Feld, in dem ich Angaben zu meiner Rasse machen sollte. Dies finde ich befremdlich. Ich realisiere, dass ich nicht weiß, ob man in Deutschland auch Angaben zur „Rasse“ machen muss und welche Auswahlmöglichkeiten zum Ankreuzen zu den „ethnischen Beschreibungen“ wohl zur Verfügung stehen. Hier sind es: Asiatisch, Asia-Amerikanisch oder Aleuten (Asian, Asian-American oder Pacific Islander); Hispanics (Hispanic); Schwarz, nicht lateinamerikanisch (Black Not Hispanic); gebürtiger nord-amerikanischer Indianer, Indianer oder Alaskisch (North American Native, Indian or Alaskan); Weiß, nicht lateinamerikanisch (White Not Hispanic). Diese Angaben sind freiwillig.

Mit Tom vom Yoga habe ich mich nicht getroffen, er hat auf meine mail nicht mehr reagiert, ich habe die Einladung wohl missverstanden. Dafür habe ich mich mit Rhada, dem Hund meiner Lehrerin, gut angefreundet. Wir verstehen uns auch ohne Worte. Und ich war mit Jasen, den ich im gleichen Kurs kennen gelernt habe, nach einer Yogastunde Tee trinken. Jasen hat in Harvard seinen Doktorgrad gemacht und arbeitet in der Krebsforschung. Manchmal habe ich den Eindruck, in ganz San Francisco trifft man nur hochgebildete Intellektuelle, die entweder im Computer-Business oder in der Forschung arbeiten. Jasen hat mir ein Meditations-Zentrum empfohlen, in dem man ein Retreat machen kann; dort lehrt auch Howard, dessen Kurs ich bereits besuche. So gehe ich auf ein Retreat in den Bergen Kaliforniens und genieße die Ruhe und guten Lehrer, die etwas zur Weisheit des Lebens erzählen und Techniken lehren, wie man sich selbst weiterentwickelt.

In Kalifornien ist so ein Retreat völlig normal, es gibt Kurse zu allen Arten der Selbsterkenntnis, Heilmedizin und Lebensverlängerung, Weiter- und Persönlichkeitsentwickung oder Karriereförderung. Auch liegen in den Bars und öffentlichen Plätzen die verschiedensten Magazine zu „grünem und gesunden Lebensstil“, „zur Erleuchtung und Selbstentwicklung“ oder zu „Yoga“, „noch mehr Yoga“ und „Yoga und chinesische Heilmedizin“ herum, die man umsonst mitnehmen kann. Das Cover ziert meist ein Foto einer bildhübschen Frau, die in einem Feld aus weißen Callablumen – die, nebenbei bemerkt, hier wild in jedem Park in Massen wachsen - oder auf einem Berg steht, die neueste Mode trägt, aber dabei irgendwie weise aussieht. Vielleicht sind die Menschen hier offener für alternative Methoden und Einflüsse, weil hier so viele Ethnien zusammenkommen; vielleicht, weil Amerikaner gerne jede Technik nutzen, um erfolgreicher zu werden oder vielleicht einfach, weil hier viele reiche Menschen leben, die genug Geld haben, um sich über den Sinn des Lebens Gedanken zu machen.

Während ich also auf einem Retreat bin, Konzentrationstechniken weiterentwickle, mich mit den Redwood-Bäumen, wilden Truthähnen und Rehen im Wald anfreunde, geht Paul derweil auf ein Konzert, das ihm eine Freundin aus Deutschland empfohlen hat, weil sie von der Band aus San Francisco gehört hat. Als er die bunte Mischung an Jazzmusikern auf der Bühne sieht, kommen sie ihm bekannt vor. Fernsehen, Zeitung, Plakate, wo hat er sie denn schon mal gesehen oder gehört? Als die schöne Frontsängerin Rupa wie eine Energiewolke über die Bühne tanzt, fällt es ihm ein: Das sind unsere musizierenden Nachbarn!



Erstellt: 10. Mai 2008 – letzte Überarbeitung: 13. Mai 2008
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