BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Interieurs: Karo»
von Henriette Orheim
Als PDF-Datei laden

Es hatte einige Tage und Nächte geregnet und in der letzten Nacht besonders heftig, doch an diesem Morgen zeigt sich der Himmel völlig klar und aufgeräumt, die Sonne freut sich, nicht mehr hinter Wolken verbannt zu sein und bemüht sich deswegen sehr, Bäume, Wiesen, Felder und Gärten zu wärmen und die Menschen glücklich zu machen. Judith hat diese Absicht gespürt und ihren Morgenspaziergang in der feuchten und schweren Luft ganz unüblich bis hinunter zum See ausgedehnt - zur Freude von Harriet. Nun kehren beide gemächlich zurück, Judith schaut in die Gärten ihrer Nachbarn, Harriet schnüffelt unter allen Hecken herum. Als sie schließlich in die Straße einbiegen, in der sie wohnen, empfängt sie der süße Duft blühenden Sommerflieders. Judith ist froh und gelassen, Harriet sowieso. Judith schließt gerade die Haustür auf, als sie das Klingeln des Telefons in der Diele hört. Einen Moment zögert sie noch, ob sie nicht lieber die arg verschmutzten Schuhe ausziehen soll, dann eilt sie aber doch zum Telefon. Es ist Karo: «Hallo Judith, bist Du da? Du, ich kann in einer Stunde bei Dir sein, ok? Bis gleich, ich freu mich!»

Judith steht mit dem Telefon in der Hand in der Diele. Was hat sie eben Karo geantwortet? Hat sie überhaupt etwas gesagt? Sie weiß es nicht mehr. Freut sie sich auf den Besuch? Doch, natürlich, Karo kommt! Das ist immer wunderbar! Wie lange haben sie sich nicht mehr gesehen? Ein halbes Jahr? Oder länger? Sie weiß es nicht. Sie versucht sich, an Karos letzten Besuch zu erinnern und merkt, wie mit einem Mal Leichtigkeit und Beschwingtheit dieses Sommermorgens von ihr abfallen. Sie ärgert sich über sich selbst. Und so steht Judith immer noch in der Diele, mit schmutzigen Schuhen - und dem Telefon in der Hand. Harriet merkt, daß irgendetwas nicht stimmt, daß da eine Veränderung ist, eine Ungewöhnlichkeit. Also stellt sich Harriet vor Judith und schaut sie an. Und dann beendet sie Judiths unentschiedene Verharrung mit einer einzigen - allerdings ebenfalls zwischen Entschlossenheit und Unentschlossenheit schwankenden - Lebensäußerung, die sich wie eine Mischung aus Bellen und Jaulen anhört. Aber sie erfüllt ihren Zweck. Judith wacht auf und schaut erst zu Harriet, dann auf die Uhr in der Diele. «Hey, in einer Stunde kommt Karo», sagt sie zu Harriet. Und die scheint sich darüber zu freuen.

Judith zieht ihre Schuhe aus, wischt den Flur, füllt den Napf von Harriet, räumt Wohnzimmer und Küche auf und trägt die beiden Gartenstühle und das Tischchen zu dem kleinen neu gepflasterten Platz hinten in der einen Ecke des Gartens, zu den neu angepflanzten Rosen - und dem Buddha aus Ton. Zurück in der Küche stellt sie alles für einen Tee zurecht. Dann geht sie wieder in den Garten und setzt sich. ‹Mal sehen›, sagt sie zu sich, ‹heute ist Donnerstag, da kommen die beiden Kleinen nicht vor 13 Uhr aus der Schule. Und die Große kommt wahrscheinlich noch später. Wenn Karo also wirklich um 10 Uhr hier ist, haben wir drei Stunden für uns.›

Judith und Karoline sind gleich alt, haben gemeinsam studiert, im selben Jahr ihr Diplom gemacht und zwei Jahre zusammen gewohnt. Das ist jetzt zehn Jahre her. Karoline ist immer viel unterwegs, Judith hat gleich nach dem Diplom ihre große Liebe geheiratet - und drei Kinder bekommen. Aber sie treffen sich ab und zu, vielleicht ein- oder zweimal im Jahr.

Judith sitzt in der Sonne und spürt, wie sie aufgeregt und unruhig wird. ‹Freue ich mich eigentlich auf Karo?›, fragt sie sich, ‹oder verliere ich gerade meinen Frieden?› Sie denkt an die guten Jahre mit Karo zurück, und löst sich so etwas aus ihrer Anspannung. Doch dann ist Judith ganz klar und denkt: ‹Ach, Karo, warum schäme ich mich so oft vor Dir?› Sie schüttelt den Kopf und sagt laut: «Schluß damit!»

Judith zuckt zusammen, war sie eingenickt? Kühle, feste Hände halten ihr die Augen zu. Ach, Karo, natürlich. «Ich bin etwas zu früh, und hab mir gedacht, daß Du bei dem Wetter im Garten bist», ruft Karo. Judith steht auf, sie umarmen sich und Harriet, die im Schatten eines Rhododendron-Busches eingenickt war, steht vor ihnen und bellt ein bißchen.

Judith und Karo bereiten gemeinsam in der Küche den Tee zu und sitzen endlich zusammen im Garten. Karoline trägt ein edles, besticktes T-Shirt und eine schwarze Hose, und obwohl sie sehr gebräunt ist, hat ihr Gesicht nichts ledriges, nein, ganz und gar nicht, Karo sieht sehr frisch und jung aus - und, ja, sie ist sehr schön. Und munter, der alte leichtfertige Karo-O-Ton. Sie lachen viel. Karoline sagt: «Ist was ausgefallen heute morgen, und ich muß erst gegen zwei Uhr weiter.» Judith sieht sie an und denkt: ‹Karo hat sich nicht verändert, sie ist so selbstsicher, so lustig, so unbeschwert.› Dann fragt sie: «Was machst Du eigentlich zur Zeit?» «Och, ich hab' jetzt einen Job bei der EU, Verkehrsprojekte, vor drei Wochen war ich auf einer Konferenz in Lissabon, dann in Slowenien, dann in Stockholm, und gestern bin ich aus Kreta wieder gekommen.» «Ja, und was macht ihr auf diesen Konferenzen?» «Reden!» «Ja, und dann?» «Dann vertagen wir uns!» Beide lachen. Und Judith ist froh, daß ihre Anspannung verschwunden ist.

Der Tee ist längst ausgetrunken. Da es immer wärmer wird, schlägt Judith vor, etwas Kaltes aus der Küche zu holen. Als sie wieder zurück in den Garten kommt, hat Karo in der Zwischenzeit ihren Stuhl etwas zurückgeklappt, es sich in der Sonne bequem gemacht und ihr T-Shirt ausgezogen. Judith erschrickt, dann sieht sie, daß Karos schlanker Körper vollständig gebräunt, daß da nicht eine weiße Stelle oder ein weißer Streifen zu finden ist. Judiths Bauchschmerzen sind wieder da.

Judith stellt das, was sie aus der Küche mitgebracht hat, auf den kleinen Tisch und rückt sich dann ihren Stuhl so zurecht, daß sie Karo nicht im Blickfeld hat. Karo liegt mit geschlossenen Augen in der Sonne und erzählt Geschichten, Judith schweigt und träumt sich weg. Nach einer ganzen Weile erst merkt Karo, daß Judith nicht zuhört. Sie klappt ihren Stuhl hoch, setzt sich aufrecht hin und schaut Judith an: «Kleine! Was ist denn?» Judith fühlt sich gerade sehr klein und so mag sie es ganz und gar nicht, wenn Karo «Kleine» zu ihr sagt. «Nichts», sagt Judith. «Ach komm», ruft Karo, «Du hast doch was.» Karo senkt ihren Kopf, blickt an sich hinunter und sagt: «Hör mal, Du bist doch nicht etwa prüde, Kleine? Oder hast Du Sorgen, daß Dein Mann nach Hause kommt. Du, ich sag Dir, der hat schon ganz andere Sachen gesehen!»

Judith schweigt und schaut Karo nicht an. Sie weiß nicht genau warum, aber sie weint beinahe. Sie blickt auf die Blumen und Stauden an ihrer Seite. Sie denkt: ‹Der Regen hat heute Nacht wirklich ein Massaker angerichtet, ich muß unbedingt den Eisenhut und den Phlox neu festbinden. Und, so ein Jammer, der Goldfelberich liegt platt auf dem Boden.› Dann sieht sie zu den Rosen hinüber, der Regen der letzten Tage hat viele Rosenknospen faulen lassen, noch ehe sie erblühen konnten. Nun erscheint das, was eigentlich duften, blühen und leuchten sollte, schlaff und häßlich. ‹Ich muß mich mehr um die Rosen kümmern›, denkt Judith, ‹vor allem muß ich diese Mumien herausschneiden, die sehen so deprimierend aus.›

Judith und Karo schweigen eine ganze Weile. Dann blickt Judith endlich zu Karo hinüber und sieht, daß diese ihr T-Shirt wieder angezogen hat und Judith aufmerksam anschaut. Endlich sagt Judith: «Ich weiß, daß Du früher oft ‹Kleine› zu mir gesagt hast, aber jetzt verletzt es mich.» Aber sie denkt: ‹Warum besuchst Du mich? Natürlich mag ich Dich sehr, wir waren ja auch so lange zusammen, aber jetzt, jetzt ist es so, daß ich mich in Deiner Nähe so - unscheinbar, so unterlegen, so klein, ja, - und auch so häßlich fühle.› Karo schweigt und sieht Judith weiter an. Judith weint ein bißchen. Und die kluge, souveräne, schöne Karo sagt: «Verzeih mir, Judith, ich bin ein Schaf.»

Es wird doch noch sehr schön mit den beiden, sie plaudern und lachen und die alte Vertrautheit ist fast wieder da. Später, an der Haustür, umarmen sie sich, und dann schauen Judith und Harriet gemeinsam hinter Karo her, wie sie mit dem Auto davon fährt. Und als sie gerade wieder hinein gehen wollen, sehen sie, wie vom anderen Ende der Straße die beiden Jüngsten von der nahe gelegenen Schule zurückkommen. ‹Das ist doch viel zu früh›, denkt Judith. «Unterrichtsausfall!» krähen die beiden ganz beglückt schon von weitem. Harriet läuft ihnen entgegen. Als endlich alle in der Diele sind, schließt Judith die Haustür.



Erstellt: 23. Juli 2004 - letzte Überarbeitung: 23. Juli 2004
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.