BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Interieurs: Judith»
von Henriette Orheim
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Es ist kurz vor Mitternacht und völlig ruhig im Haus. Nur von der auf dem dicken Teppich vor dem Sofa lang ausgestreckt liegenden Retriever-Hündin Harriet ist ein leises Schnarchen zu hören. Judith erhebt sich vom Sofa und geht an der Hündin vorbei zu dem alten, dunklen Sekretär, der in der einen Ecke des Wohnzimmers steht. Sie öffnet die mit kleinen Perlmutt-Intarsien verzierte Klappe, zieht sie vorsichtig herunter, rückt einen Stuhl herbei und setzt sich. Dann nimmt sie ihr Tagebuch aus der linken mittleren Schublade, legt es auf den dunkelgrünen Filz, mit dem die Innenseite des Deckels ausgeschlagen ist, öffnet es und liest, was sie gestern geschrieben hat.

Ihr Mann war heute spät nach Hause gekommen, hatte noch ein wenig gegessen und war dann gleich ins Bett gegangen. Die beiden jüngeren Kinder schlafen schon seit einer Weile in ihren Zimmern, und die Älteste übernachtet bei einer Freundin.

Sie liest in ihrem Tagebuch, liest, was sie gestern gedacht und aufgeschrieben hat, und spürt eine große innere Ruhe. Das bedeutet ihr sehr viel, abends, vor ihrem Sekretär, in dieser einen Ecke des Hauses, die nur ihr gehört, zu sitzen und - wie sie es selbst nennt - bei sich zu sein. Allem anderen, den Anforderungen, den Erwartungen, den Konkretizismen, die mit dem Mann, den drei Kindern, dem Haus, dem Hund verbunden sind, hat sie vor einiger Zeit einen summarischen Namen gegeben, der ihr sehr gefällt: Performanz. «Jetzt ist Performanz angesagt!» ist einer ihrer Lieblingssätze, wenn sie irgendetwas zu tun und zu regeln, wenn sie jemanden anzutreiben oder zu beschwichtigen hat. Manchmal, selten, sagt sie auch zu ihrem Mann oder einer Freundin «Ich bin überdefiniert, denn zu fast jeder Stunde jeden Tages liegt schon vorher fest, was ich tun werde.» Das sagt sie ohne jede Bitterkeit, und ihr Mann lächelt dann und antwortet «Und was ist mit mir? Erlebe ich jeden Tag Überraschungen?» Er sagt das sehr freundlich, denn er liebt sie. Und ihre Freundin, mit der sie regelmäßig telefoniert, meint dazu meist nur, daß sie doch jetzt einen «Platz gefunden» habe, den es «auszufüllen» gelte. Manchmal sagt diese weit entfernt wohnende Freundin auch, sie solle «ausharren». Aber dieses Wort gefällt ihr überhaupt nicht. Es klingt so abwertend, als wüßte sie ihr Leben, ihre Aufgaben, ihr So-Sein, ihre Performanz nicht zu schätzen, oder als würde sie unter Mann, Kindern, Haus und Hund leiden. Das tut sie aber nicht. Und oft streiten sich dann die beiden Freundinnen ein wenig und sie sagt «Ich beklage mich doch gar nicht über mein Leben, was gibt es denn dann da auszuharren?» Manchmal schimpft sie auch auf ihre Telefon-Freundin. Dabei ist «Ein bißchen Analyse darf doch wohl sein!» einer ihrer Lieblingssätze.

Sie nimmt einen Bleistift, macht einen zarten Strich unter die Tagebuch-Eintragung des gestrigen Abends, und schreibt dann einige neue Zeilen. Nie würde sie etwas eintragen, das sich nur im Äußeren, im Drumherum zugetragen hat: Keine Ereignisse des Alltags, keine üblichen Katastrophen, keine der endlosen absehbaren Nichtigkeiten. Nein, sie versucht, sich so genau wie möglich zu betrachten, sie will Rechenschaft ablegen gegenüber ihrem inneren Werden, sie möchte ihre Gedanken und Stimmungen aufzeichnen - und festhalten. «Mein Leben jenseits der Performanz», so stand es auf der ersten Seite des Tagebuches, daß sie zu diesem Neujahr gerade wieder neu begonnen hatte. Aber dieser Ausdruck gefiel ihr schon nach wenigen Minuten nicht mehr. Es war etwas anklägerisches dabei, das sie in sich selbst gar nicht entdecken konnte, und bevor sie überhaupt etwas in das neue Tagebuch eintrug, überklebte sie das Motto mit einem Exlibris und schrieb darunter ‹Interieurs›.

Die alte Familienuhr im Wohnzimmer schlägt zwölf mal. Sie kehrt zu sich zurück und merkt, daß sie schon seit geraumer Zeit nichts mehr in ihr Tagebuch eingetragen hat, sondern aus den großen Fenstern des Wohnzimmers in den Garten schaut - ohne etwas zu sehen. Sie steht auf, geht zur Terrassentür, legt ihre Stirn an die große Glasscheibe und blickt hinaus. Es ist gar nicht richtig dunkel, denn der Mond läßt hier und da den Reif auf dem Rasen funkeln, der zugefrorene kleine Teich scheint von unter her beleuchtet zu sein, und die Rhododendren werfen bläuliche Schatten auf die Kamelien, die sich dicht an die Gartenmauer kuscheln.

Nach einer ganzen Weile löst sie ihren Kopf von der Glastür und betrachtet den Fleck, den ihre Stirn auf dem Glas zurück gelassen hat. ‹Ich werde ihn gleich morgen früh wegwischen›, denkt sie. Dann entschließt sie sich, zu Bett zu gehen. Sie geht zurück zu ihrem Sekretär, öffnet die Schublade, nimmt das Tagebuch, schließt es, will es zurücklegen, und entdeckt auf dem Boden der Schublade den Brief, den sie vor zwei Jahren an jemanden geschrieben, aber nie abgeschickt hat. Sie nimmt ihn aus der Schublade heraus und schaut ihn eine ganze Weile an. Sie blickt zu Harriet hinüber, die träumend jiept und fiept, sie schaut auf den Abdruck ihrer Stirn an der Terrassentür, dann plötzlich öffnet sie den Umschlag, nimmt den Briefbogen heraus und liest ihn. Sie ist neugierig, denn zwei Jahre lang hat sie den Brief unbeachtet gelassen.

Nachdem sie den Brief gelesen hat, sagt sie laut «Diese seltsame Geschichte!» Harriet wacht mit einem Schmatzen auf, hebt mühsam ihre Brust und Vorderbeine ein wenig hoch und blickt verwirrt zu ihr herüber. Judith lächelt ihr zu und sagt «Träum weiter, Harriet!» Die Hündin rutscht beruhigt ganz langsam wieder mit dem Oberkörper auf den Teppich, senkt ihren Kopf auf die Vorderbeine, zwinkert ein paar Mal mit den Augenlidern - und schläft wieder ein.

Judith schaut auf das, was sie damals geschrieben hat. Sie ist froh, denn es erscheint ihr klar und wahr zu sein. Und dann weiß sie, daß sie den Brief morgen in den Briefkasten werfen wird. Sie nimmt einen Stift und schreibt an den Rand des Briefes eine kleine Bemerkung, warum ihr der Brief auch heute - nach zwei Jahren - noch gefällt, und warum er ihr wichtig ist. Sie schreibt nur zwei Sätze. Dann schließt sie den Brief und klebt eine Marke darauf. Ob sich seine Adresse geändert hat? Ach, das ist nicht wichtig. Denn das ist ihr Brief, und sie freut sich darüber, daß sie ihn endlich abschickt. Ob er ankommt, ja, ob er beantwortet wird, ist für sie unerheblich. Sie hat den Brief für sich, ja an sich selbst geschrieben, und nicht für den, an den er gerichtet war - und ist.

Sie schließt ihren Sekretär, steht auf und blickt noch einmal aus der Terrassentür in den dunkel schimmernden Garten. Sie ist nicht erleichtert darüber, daß sie den Brief morgen abschicken wird, es ist keine Last von ihr gefallen, nein, sie ist ruhig und - glücklich, weil sich ein Kreis schließt.

Als sie im Bett liegt, träumt sie sich in den Nachmittag vor zwei Jahren hinein. Es war in einem anderen Land, in einer anderen Stadt, während der Feier zu Ehren einer Anderen. Es war ein sehr warmer Sommertag, und sie saß mit vielleicht 30 Leuten an einem großen Tisch unter einer riesigen alten Kastanie. Sie war der Einladung gerne gefolgt, denn sie schätzt die zu Ehrende sehr. Da ihr die anderen Gäste aber fremd waren, fühlte sie sich nicht wohl. Sie war nicht gelassen, war unsicher, und das war ihr sehr unangenehm.

Bilder tauchen auf, Klänge, das Gitarrenspiel des Sohnes der zu Ehrenden, Gerüche, die herb-apfelige Säure des Champagners, die Brokkoli-Quiches, das Stimmengewirr. Und rechts von ihr an dem großen Tisch sitzt ein Mann und spricht mit ihr. Sie hat ihn nicht beachtet, als alle Gäste vorgestellt wurden. Sie hat nur gesehen, daß er schlank ist, und alt, fast grau, bestimmt älter als sie, und daß seine Schultern etwas gebeugt sind. Dieser Mann sitzt also neben ihr, ist höflich und freundlich, reicht Platten mit Leckereien weiter, füllt Gläser nach - aber das ist es ja alles nicht. Er spricht mit ihr - und sie kann sich dem nicht entziehen. Zu Beginn des Gespräches ist sie fast ärgerlich, ihre Verkrampfung und ihre mangelnde Geborgenheit in diesem Menschenraum schnüren sie ein. Doch dieser Mann sieht das - und sagt es ihr. Sie wird noch ärgerlicher, fühlt sich verhöhnt, will böse werden. Sie sieht dem Mann jetzt voll ins Gesicht und will gerade loslegen, sich befreien, ihre unangenehme Einklemmung lösen und beenden, da sagt er «Ein bißchen Analyse darf doch wohl sein, oder?» Sie ist verblüfft. Der Satz ist immerhin ihr Satz. Aber das kann der Mann nicht wissen. Seltsam, denkt sie, und schaut den Mann ruhig an. Sie muß lächeln, und in diesem Moment löst sich der Knoten in ihrem Bauch.

Sie liegt in ihrem Bett, gut eingerollt und warm, sie ist sehr schläfrig - aber dennoch ist ihr Kopf ganz klar. Ja, sie hat viele Stunden mit diesem Mann gesprochen. Eigentlich hat sie den ganzen Nachmittag nur mit diesem Mann gesprochen. Und sie war so ohne Angst, wie sie es nur selten erlebt hat, so ganz frei und doch behaust. Aber worüber hat sie nur mit ihm gesprochen? Sie weiß es nicht mehr. Was ihr geblieben ist, was sich so fest eingeschrieben hat in ihre Erinnerung, ist nicht das, was er sagte, sondern wie er es sagte. ‹Nein, nein, das stimmt nicht›, denkt sie, ‹wir haben doch über so vieles gesprochen!› Und doch kann sie sich nicht darauf besinnen. Aber was bewegte sie denn dann, damals, vor zwei Jahren, daß sie des Abends spät zu Hause angekommen noch den Brief schrieb, den sie heute wieder entdeckt und wieder gelesen hat? Was nur?

Und jetzt, warm und schläfrig in ihrem Bett liegend, sagt sie sich, daß es um etwas anderes ging, an diesem Sommernachmittag, unter der großen Kastanie, im Sich-Finden mit diesem Mann. Und da - kurz bevor sie einschläft - fallen ihr doch noch die Worte zu, ja, sie strömen gleichsam herbei: ‹Es war ein anderes Verstehen›, denkt sie, ‹ein Verstehen ohne ein Begehren, es war die - Erfüllung eines Verstehens. Da waren Aufrichtigkeit und Aufmerksamkeit, Ehrlichkeit und Wertschätzung, Akzeptieren und Gewähren. Es war ein Moment - einer überpersönlichen Liebe.›

Und sie träumt von einem Gespür für das Eigentliche, für das sie lebt, und sie ahnt gleichzeitig vieles von dem, was sich in ihrem Leben niemals wird verwirklichen lassen. Sie weiß, daß da immer etwas - wertvolles unerreichbar in der Ferne bleiben wird. Und dennoch ist sie so voller Freude über das, was ihr bleibt.

Judith lächelt, sie schläft.



Erstellt: 15. Januar 2004 - letzte Überarbeitung: 15. Januar 2004
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