BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Signa, oder die 120 Tage von Sodom (1): Einführung»
von Stefan Bärnwald
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«Isoliert und ausgesetzt auf steilem Klippenvorsprung,
so sieht man die Dinge, die einen interessieren.»
(Botho Strauß)

Die Gruppe Signa inszeniert Theater, das zu den letzten Fragen des Menschseins führt. In einem für die jeweiligen Inszenierungen gestalteten Gebäude oder Gelände findet die Handlung zumeist simultan in verschiedenen Räumen statt. Das Publikum kann sich relativ frei bewegen und hat die Möglichkeit, mit den Schauspielern zu interagieren, um so in einem festgesteckten Rahmen auf die Handlung einzuwirken. In solchen totalen Environments werden die ohnehin fragwürdigen Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion endgültig aufgehoben und gewöhnliche Vorstellungen von Identität und Persönlichkeit außer Kraft gesetzt. Wer in die Welten von Signa eintritt, muss sich neuen Realitäten mit ganz eigener Ordnung stellen.

Im Frühjahr 2010 inszenierte Signa die Grundmotive von Pier Paolo Pasolinis filmischem Meisterwerk Salò oder die 120 Tage von Sodom. Pasolini versetzte die 1784 vollendete Schrift de Sades in die faschistische Republik Salò. Lustknaben und-mädchen werden von vier mit absoluter Macht ausgestatteten Herren auf jede erdenkliche und nicht erdenkliche Spielart erniedrigt, gequält und gefoltert. In kontemplativen Bildern des Schreckens seziert Pasolini das menschliche Wesen und zerstört auch noch die letzte unserer Illusionen. Durch alle Masken hindurch blicken wir in die kalten Augen der Bestie am Grund unseres Daseins.

Gib dem Menschen Macht, und er wird dich missbrauchen. Gib ihm absolute Macht, und er wird dich zerstören.

Um diese existenzielle Einsicht auch noch bis in die tiefsten Eingeweide erfahrbar zu machen, setzte sich das Ensemble über mehrere Wochen einer zu den Grenzen des Erträglichen führenden Theater-Aktion aus: In einer Villa in Kopenhagen wurden die vier an Dantes Inferno orientierten Zyklen von Pasolinis Film aufgeführt, wobei die Schauspieler rund um die Uhr – mit bestenfalls kurzen Erholungspausen – in dieser umfassend konstruierten Situation lebten.

Die Villa Salò ist ein seit 20 Jahren erfolgreich geführtes Bordell, das von vier Libertins übernommen wurde. Vier Herren, der Magistrat, der Bischof, der Präsident und der Herzog, sind Kraft ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihrer unerschöpflichen finanziellen Mittel über jede Strafe erhaben. Ihr Bund hat den einzigen Zweck, ihre Wollust exzessiv ins Unermessliche zu steigern. Objekt und Material ihrer Begierden sind die Kinder, Lustknaben und –mädchen von ausgesuchter Schönheit. Die Kinder sind geboren, um ihren Herren zu dienen. Das Lusthaus wird von vier in allen erotischen Künsten erfahrenen Damen geführt, denen es obliegt, das Feuer der Herren immer wieder von neuem zu entfachen. Um das leibliche Wohl kümmern sich zuvorkommende Mägde, während mit Waffen und prächtigen Geschlechtsorganen ausgestattete Wächter für die erforderliche Disziplin sorgen. Um ihren Orgien eine gewisse Pikanterie zu geben, haben die vier Herren Gäste geladen, die ihren Exzessen beiwohnen dürfen. Für das Wohlergehen der Gäste sind jeweils die Herren, die Damen, die Wächter, die Mägde oder die Kinder verantwortlich. Für jedes Fehlverhalten eines Gastes muss die Person, die die Verantwortung für diesen Gast trägt, mit ernsten Strafen rechnen. Deswegen ist es für alle Beteiligten von allergrößter Bedeutung, die Ordnung der Dinge in der Villa Salò strikt zu befolgen:

Politisch gilt das Recht des Stärkeren, während ideologisch alles dem Lustprinzip unterworfen ist.

Herzlich Willkommen in der Villa Salò.



Erstellt: 21. März 2010 – letzte Überarbeitung: 23. März 2010
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