BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Signa, oder die 120 Tage von Sodom (4a): Skatologische Betrachtung (1) Frühlingserwachen» von Stefan Bärnwald
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«Something came over me, and I don't know what it was.»
(Throbbing Gristle)

Der Kunstfreund hat sich in ‹Ibsens Hotel› einquartiert. Als Kontrapunkt zu einer auf de Sades frauen- und menschenfeindlichen Schriften gründenden Inszenierung schien ihm das nur passend. Gerade weil die von Ibsen angestoßene Befreiung die Frau ja nur in neue Zwänge überführt hat. Aus dem Gefängnis der Tradition, direkt in den modernen Konsum- und Karrierekerker emanzipiert. Schade, Nora, nicht so richtig das, was du dir erhofft hattest, oder? Der gleiche groteske alte Kaiser, nur in aufgehübschten Gewändern.

So sinniert der Libertin im Geiste vor sich hin, während er, nach einer denkwürdigen Nacht voller Ausschweifungen, zurück zur Villa Salò schlendert. In Kopenhagen erwacht der Frühling. In den vom letzten Eis befreiten Binnenseen baden die Möwen, schnattern die Enten, balzen die Schwäne. Auf dem Asphalt der Alleen, hier und dort, quillen Eingeweide aus einer zerplatzten Kröte, im blinden Liebeswahn das kubistische Profil eines Autoreifens auf den Leib geprägt. Mütterchen Natur, blanker Irrsinn, blindes Chaos, keine Liebe, kein Sinn, kein Verstand. Wo bist du, schwachsinniger Idiotengott, an den wir unsere Klagen richten könnten?

Das Etablissement öffnet am späten Vormittag. Die frühe Stunde, ohne die Heerschar abendlicher Gäste, verspricht intime Begegnungen mit den Bewohnern des Hauses. Mme. Vaccari, ganz die zauberhaft derangierte Gesandte einer übernächtigten Morgenröte, begrüßt ihre neuen Gäste bereits zu dieser ungebührlichen Stunde persönlich. Langsam und träge erwacht das Haus zu neuem Leben. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee erfüllt die sonnendurchfluteten Räume und Séparées. Die Damen des Hauses widmen sich ihrer Toilette. In der Küche schnattern die Mägde, und selbst die Wachen sind zum Plaudern aufgelegt. Die Kinder spielen unbeschwert, der Kindheit glückliche Spiele.

Es ist Ruhe, vor dem nächsten Sturm.

Gegen Mittag, als erster der vier Herren, erwacht der Präsident von Curval, ein hagerer, dünner Mann; hohle, erloschene Augen, ungesunder Mund, das lebendige Bild des Schmutzes und der Ausschweifung, von schrecklicher persönlicher Unreinlichkeit und daran seine Wollust knüpfend; beschnitten, seine Erektion ist selten und schwierig. Sie findet aber trotzdem statt und er ejakuliert immer noch fast täglich, sein Geschmack lässt ihn Männer bevorzugen, nichtsdestoweniger verachtet er eine Jungfrau nicht; seine Eigenheit besteht in der Vorliebe für das Alter und was ihm in Bezug auf Schweinerei ähnlich ist. Er braucht Exzesse von drei Stunden, und Exzesse der infamsten Art, um den Kitzel der Wollust zu verspüren, was die Entladung betrifft, so war dieselbe, obwohl sie bei ihm öfter stattfand als die Erektion, und fast immer einmal, doch sehr schwierig zu erreichen oder fand vielmehr nur statt, wenn ganz besondere und häufig so grausame oder so widerwärtige Dinge vorausgingen, dass die Vermittler seiner Vergnügungen dabei manchmal versagten, was in ihm eine Art von geilem Zorn hervorrief, der dann oft einen besseren Erfolg zeitigte als seine vorherigen Anstrengungen. Er hatte unaufhörlich die schmutzigsten Ausdrücke im Munde und im Sinne und vermischte sie in der kräftigsten Weise mit Gotteslästerungen und Verwünschungen, die ihm von dem wahrhaften Abscheu eingegeben wurden, den er, nach dem Beispiel seiner Genossen, für alles hegte, was mit Religion zusammen hing.

So beschreibt der göttliche Marquis den Präsidenten bei der Vorstellung des Personals seiner Schule der Ausschweifung. Heute, zum Mittagstisch, hat Herr Curval ein Mädchen gekreuzigt, um sich, noch in Halbschlaf und Morgenmantel, in Stimmung zu bringen. An der Festtafel, das grob gezimmerte Holzkreuz in flachem Winkel an einen der Tische gelehnt, widmet sich der Herr Präsident seinen skatologischen Neigungen. Mutiert zu einer endgradig dementen Qualle, reibt er sich sabbernd und Flüche stammelnd an dem gekreuzigten Körper des verängstigten Mädchens, und verschmiert dabei den schleimigen Kot seines morgendlichen Stuhlgangs auf ihrem Bauch, ihren Brustwarzen, in ihrem Gesicht und in ihren Augen. Seine debile Geilheit, seine Lust und seine Gier stehen dabei in diametralem Gegensatz zu seiner sexuellen Dysfunktion. Nichts regt sich im Genitalbereich, an Befriedigung ist nicht zu denken. Kein Funke springt hinüber, in das faulige Stroh seiner Begierden. So steigert er sich in den geilen Zorn, von Sinnen malträtiert er das Mädchen, das auf ihrem Kreuz hin und her geschleudert wird, Tränen verströmt und um Gnade bettelt. Überflüssig zu vermerken, dass ihre Verzweiflung den Wahnsinn des Präsidenten nur weiter anstachelt. Er verliert sich endgültig in einer schweinischen Rage ohne Erlösung. Doch auch der letzte Exzess zeitigt keine Erektion, und keine Entladung will Erleichterung bringen, So gibt der Präsident von Curval, schließlich am Rande der Bewusstlosigkeit, sein mittägliches Unterfangen auf. Der Tag ist ja auch noch recht lang.



Erstellt: 24. März 2010 – letzte Überarbeitung: 26. März 2010
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