BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Plausible Plotlinien: Schwarze Johannisbeeren.»
von Edna Lemgo
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«Having deconstructed everything
We should be thinking about
Putting everything back together
Silence Yourself»
(Savages)


Schwarze Johannisbeeren waren ihre Lieblingsbeeren. Die Sträucher zwischen den Rosenbüschen, unter den Wäscheleinen, zwischen denen wir Federball gespielt haben. Damals. Einen Johannisbeerstrauch haben wir auch in unserem Garten. Hinten rechts, neben dem Gewächshaus, unter der Kiefer. Heute.

Sie hat es geschafft, endlich, vor ein paar Tagen, Anfang Juli. Das Ende war so traurig. Natürlich hat sie es sich nicht leicht gemacht.

Wir waren im Urlaub, Ende Februar. Dass wir sie telefonisch nicht erreicht haben, hat uns erst nicht gewundert. Ohne Hörgeräte hat sie das Telefon nicht mehr gehört. Ihre Hörgeräte haben ja eigentlich nie funktioniert. Oder sie hat sie vergessen oder verlegt. Kein Grund zur Sorge also. Am fünften oder sechsten Abend nahm dann endlich jemand ab. Nicht Oma, die Dame, die sie beim Putzen unterstützt hat, die einmal die Woche gesaugt hat, die einmal die Woche ihr einziger regelmäßiger Kontakt war, abgesehen vom Pflegedienst morgens und abends, der die Tabletten gebracht hat.

Sie hat es nicht mehr geschafft, alleine, da oben auf ihrem einsamen Hügel, da oben in ihrem Dorf im Sauerland. Zuletzt ist der Nachbar gestorben, die Nachbarin ging in die Alteneinrichtung. Ich war zu selten da. Niemand war oft genug da, als das sie eine Chance gehabt hätte. Keine Vorwürfe, nicht an mich, nicht an irgendwen. OK, schon, aber was bringt das, jetzt, noch?

Die Dame, die Oma beim Putzen unterstützt hat, sagt mir, während ich auf der Dachterrasse den Blick über den Atlantik schweifen lasse, dass es nicht mehr ginge, seit Tagen hätte Oma nur noch auf dem Sofa gelegen, nicht mehr gegessen, nicht mehr getrunken, und es wäre ja niemand da, der sich kümmern würde, außer ihr. Und sie könne das nicht mehr, sie geht doch nur zu ihr, um ihr beim Putzen zu helfen. Sie habe den Notarzt anrufen müssen, das hätte sie nicht mehr verantworten können. Das sei nicht mehr gegangen. Ich bedanke mich und erkläre ihr, dass wir nächste Woche aus dem Urlaub zurückkommen, dass sie dies Oma bitte ausrichten soll, falls sie sie im Krankenhaus besucht. Oma habe wohl noch gewusst, dass ich im Urlaub sei, aber nicht wo, und seit wann, und wie lange. Und dass ich doch ihre Liebste sei, das sage die Oma doch immer. Dabei stelle ich mir Oma vor, auf dem Sofa, unter der grauen Acryldecke, unter dem Kunstdruck mit den gelben Sonnenblumen von van Gogh. Vielleicht liegt die Katze bei ihr, auf ihrem Platz neben dem Sofa an der Heizung.

Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war sie erst einige Wochen in der Kurzzeitpflege, danach ist sie in ein Seniorenheim in der Nähe von ihrem letzten verbliebenen Sohn gewechselt. Bei meinem ersten Besuch kommt sie mir aus dem Speisesaal entgegen, wo es gerade den Nachmittagskaffee und Streuselkuchen gab, erkennt mich und begrüßt mich, ganz wie immer. Edna, bist du das? Das ist ja schön. Gar kein Problem für sie, sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden, da um die Ecke und dann links, da ist mein Zimmer. Für sie ist es ein Krankenzimmer, sie denkt, sie sei im Krankenhaus. Versteht dann aber sofort, ach ja, stimmt ja, ich bin ja auch so vergessen, glaubst du, ich bin ja jetzt im Altenheim. Wie es Stefan ginge. Dem geht es gut, Oma. Weißt Du, was mit Deiner Katze ist? Welche Katze, fragt Oma? Deine Katze, Oma, erinnerst Du Dich nicht? Sie erinnert sich nicht. Und sie will hier auch gar nicht lange bleiben, im Krankenhaus, wahrscheinlich wird sie ja auch bald entlassen. Nur der Magen, der bereite ihr wieder Probleme, deswegen sei mit ihr heute auch nicht so viel anzufangen.

Erinnerst Du Dich wirklich nicht an Deine Katze, Oma? Welche Katze denn, Edna?

Für ihre knapp 93 Jahre war sie noch richtig gut auf den Beinen. Das war ihr ganzer Stolz. Hauptsache, ich kann noch gut laufen, dann geht das schon irgendwie. Wenn ich mir da andere anschaue, in meinem Alter. Denen geht es doch viel schlechter als mir. Da muss ich auch dankbar sein, Edna.

So genau lässt es sich nicht rekonstruieren. Wahrscheinlich wollte sie rüber zu Haus Nummer 14 laufen, auf die andere Straßenseite, um meinen Vater anzurufen. Das sei schon einmal vorgekommen, aber die netten und sehr kompetenten Altenpfleger haben sie schnell wiedergefunden und zurück in ihr Zimmer gebracht. Gar kein Problem, so etwas passiert täglich. Bei ihrem zweiten Versuch ist sie dann eine Rampe herunter gestürzt. Ich habe es nicht ganz verstanden, wahrscheinlich eine LKW-Laderampe für die Anlieferung zur Küche, so ungefähr 1.5-Meter. Dreifacher Beckenbruch, doppelter Fußbruch.

Natürlich keine Operation, ganz richtige Entscheidung im Krankenhaus. Nach drei Tagen zurück in ihr Zimmer im Seniorenheim. Ich kenne ihre Medikation nicht, will es nicht wissen, und hoffe nur, dass sie so viele Schmerzmittel bekommt, wie es eben geht. Sie leidet trotzdem, mit jedem Atemzug. Und ich wünsche mir so sehr, dass sie es sich jetzt endlich gestattet, zu gehen. Du hast Dich lange genug gequält, Oma, es ist genug. Schon lange genug, Oma. Bitte jetzt nicht an das Bett gefesselt, und mit Schmerzen. Bitte nicht, Oma.

Hallo, Oma, ich bin es, Edna. Laut angesprochen klaren ihre Augen für einen Moment auf, dann driftet sie wieder weg. In den klaren Momenten meine ich, dass sie etwas erkennt, vielleicht mich erkennt. Edna, bist du das? Ein letztes Mal, tatsächlich. Danke, Oma.

Ich wollte nur kurz vorbei, frische Blumen bringen und Hallo sagen. Die zwei netten und kompetenten Pfleger beugen sich über sie, um sie neu zu lagern, denke ich. Wir kriegen das Insulin nicht mehr in den Griff. Da spricht nichts mehr an. Der Arzt meinte, wir sollten es probieren und ihn dann um acht Uhr noch einmal anrufen. Da spricht nichts mehr an. Keine Reaktionen mehr, nicht wenn wir sie laut ansprechen, nicht, wenn wir sie berühren, nicht, wenn wir sie drücken, nicht, wenn wir ihre Lider vorsichtig nach oben ziehen. Da spricht nichts mehr an.

Haben sie eine Patientenverfügung, Frau Lemgo? Ich nicht, mein Vater, wahrscheinlich. Wissen sie, was darin verfügt ist, Frau Lemgo? Tut mir leid, das kann ich ihnen nicht sagen. Was wäre denn ihr vermutlicher Wille gewesen, Frau Lemgo, wenn wir fragen dürfen. Da bin ich mir sicher, sie würde es nicht wollen. Nichts unnötig hinaus ziehen, ganz sicher nicht.

Bist du dir so sicher, Edna? Ich bin mir nicht sicher, doch schon, und auch wenn ich mir nicht sicher bin, bitte, Oma, lass es gut sein.

Die Patientenverfügung lag in ihrer Akte. Sie hat es nicht gewollt. Darum geht es, sagt der nette und kompetente Pfleger, den Tagen Leben geben, und nicht dem Leben Tage. Der Arzt ist um acht Uhr an ihr Bett gekommen, um die palliative Versorgung anzuordnen. Wahrscheinlich wird sie die Nacht nicht überleben.

Was sie jetzt machen können, Frau Lemgo? Da sein, Frau Lemgo, für sie da sein, sie spürt das bestimmt, wenn sie jetzt hier sind. Ist das nicht nur unser Wunschdenken? Geht es denn jetzt darum, Frau Lemgo? Befeuchten sie regelmäßig ihre Lippen und ihren Mundraum, das wird ihr gut tun. Wir haben dafür Sticks, diese wattierten Stäbchen, am besten nehmen sie die. Die sind schon vorbereitet und angefeuchtet, mit Johannisbeeraroma. Mit Johannisbeeraroma? Ja, Frau Lemgo, mit dem Aroma von schwarzen Johannisbeeren, das mögen viele ältere Menschen, Ja, meine Oma, meine Oma hatte auch Johannisbeersträucher in ihrem Garten, schwarze und weiße. Dann ist das doch ganz wunderbar, Frau Lemgo, ihre Oma wird das mögen.

In der Nacht ist sie gestorben. Ja, meine Oma hätte es sicher schön gefunden, dass ihr ihre Enkelin als letzte die Lippen mit Johannisbeeraroma befeuchtet hat. Ich weiß das und bin mir sicher.

Leb wohl, Oma.



Ins Netz gestellt am 8. Juli 2013
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