BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«U-Bahn»
von Anna Wiesengrund
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Ich kann nichts Schönes finden an der Abwendung von Menschen, die sich hinwenden. Autistisch hinwenden, vor sich hinreden, um Regungen von wiederum vor sich hinstarrenden Masken-Menschen zu erlangen.

Ich sitze in der U-Bahn, wie immer kakophoniert ein Insasse, den ich direkt beim Betreten der Bahn als «Durchgeknallten» erkannt habe. Geh weiter durch, sonst wirst du womöglich von ihm belästigt und angesprochen, du wolltest doch Oswald Wiener lesen.

Die Buchseiten liegen auf meinen Knien, aber ich kann nichts damit anfangen, Konzentration ist nicht möglich, ich bin abgelenkt von den uninteressierten Gesichtern um mich herum. Möchte ich wirklich eine von den Wegguckerinnen sein, einer der Masken-Menschen, die sich alle offenen Auges nicht anschauen? Ein Schauspieler, den ich vor einigen Tagen in Strindbergs Rausch gesehen habe, betritt das Abteil und spielt hier besser als im Theater. Er geht durch Menschen hindurch, ohne zu sehen, er setzt sich mit dem Rücken zu mir und liest seine Rolle. Ich frage mich, was er tun würde, wenn ich meinen Kopf zu ihm wenden und ihm in den Nacken pusten würde. Kann er hier wirklich lesen oder tut er nur so, damit er nicht angesprochen wird? Damit er so beschäftigt wirkt wie die Frau, die dem Psychotiker gegenüber sitzt und angestrengt aus dem Fenster sieht?

Und der redet von Kanaken und Todesspritzen und schaut dabei seine Mitfahrerin an, als ob er sie kenne. Der einzig menschliche Kontakt, der hier aufgebaut wird, geht von ihm aus. Er redet so laut, daß niemand weghören kann – und es reagiert doch keiner. Er schaut zu den Menschen hin – von einer zum anderen – und niemand schaut zurück. Er wagt das Allumfassende, stellt Beziehungen her, um sich danach noch einsamer zu fühlen. Die anderen sind beschäftigt, können das Schweigen nicht brechen, es würde ja jeder mitbekommen… Warum haben die Menschen – bei voller Wachheit – so müde, leere Augen, so schlaffe Gesichtsmuskeln, so schweigende Stimmen?

Eine Frau mit einem behinderten Kind wird verstohlen beim Aussteigen betrachtet. Nur nicht hinstarren, die Arme ist bis zum Lebensende gestraft, nicht starren, der Kleine sieht aber schlimm aus, wie er an die Leuchtstoffröhrendecke schielt, nur nicht starren…

Ich habe angefangen, allen Einsteigenden direkt in die Augen zu schauen, niemand hält meinen Kontaktversuch länger als eine Sekunde aus. Egal, für mich ist es die einzige Möglichkeit, es hier auszuhalten – die empirische Distanz. Ein Studium des Verhaltens anderer durchzuführen, das ist meine Antwort auf postmoderne Kälte. Dann gehöre ich wenigstens nur noch ein bißchen dazu, nur in meinem Kopf.

Was denken die anderen wohl, die sehen, wie ich hier schreibend und suchend am Fenster sitze?


Kommentare:

1. Dezember 2000
Liebe Anna,
die U-Bahn in Berlin ist hochinteressant, weil die Sitzbänke längsseits angeordnet sind und man so direkt die gegenüber Sitzenden angucken muß. Das ist spannend. Alle versuchen etwas zu lesen oder unbeteiligt zu wirken. Was wir aber Dir eigentlich sagen wollten, ist, daß Dein Artikel uns auf die Idee gebracht hat, endlich unser Projekt Fahrstuhl zu starten (Wir studieren Medienästhetik in Berlin und müssen eine praktische Arbeit mit Video machen). Das Thema Fahrstuhl ist ja im Bereich Film durchaus besetzt. Meistens bleibt der dann stecken oder es gibt irgendwelche Gewalttätigkeiten. Wir wollen aber was anderes: Wir werden irgendwie Kameras an einem öffentlichen Fahrstuhl anbringen und dann Spielart und Intensität des Sich-nicht Ansehens, des Aneinander-vorbei-Sehens, des Auf-den-Boden-Sehens dokumentieren! Super! Das nennt ihr doch Wirklichkeitsprüfung, oder?
Viele Grüße von
Yvonne und Karla
P.S. Auch in Berlin gibt es Leute, die die BOAG schätzen!

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12. Januar 2001
Liebe Anna,
ich möchte mir erlauben, Antworten auf die Fragen anzubieten, die Du in dem kleinen Essay aufwirfst. Der Schauspieler sieht die Menschen nicht, sie sind für ihn bestenfalls so etwas ähnliches, wie der Stoff, aus dem Träume sind. Er wäre zunächst sehr ärgerlich, wenn Du ihm in den Nacken pusten würdest, weil damit seine Realitätskonstruktion zusammenbrechen würde, er also sozusagen von seiner eigenen Traumgestalt geweckt werden würde. Wobei die interessantere Frage eigentlich seine zweite Reaktion ist, wenn er also sieht, wer ihm da in den Nacken gepustet hat. Dies klingt natürlich wie der Anfang einer schönen Geschichte, schade um die verpasste Gelegenheit. Die Frage, was ‹die anderen› wohl denken, während Du am Fenster sitzt, ist um einiges schwieriger zu beantworten, weil ‹die anderen› ein wenig vielschichtiger sind als ein Schauspieler in der U-Bahn. Eine schöne mögliche Antwort gibt, wie ich finde, Lisa Blausonne in «Zusehen», die sich sehr schön selbst dabei zusieht, wie sie einer Frau im Fenster zusieht. Ich denke, ‹die anderen› sehen sich dabei zu, wie sie einer Frau zusehen, die sich dabei zusieht, wie sie sinnend am Fenster sitzt. Und dabei denken sie vermutlich darüber nach, was wohl passieren würde, wenn sie Dir in den Nacken blasen würden.
Mit besten Wünschen,
Petra

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28. September 2001
Liebe Anna,
ich sitze hier im Nachtdienst und lese Deine Geschichte. Da ich als langjährige U-Bahnfahrerin all' diese Beobachtungen und Fragen, die sich während der Nicht-Begegnung mit den Mitfahrenden ergeben, nur zu gut kenne, will ich Dir ein paar meiner Überlegungen schicken: Niemand dort ist wach, alle haben sich vergessen. Und die, die sich – ganz von weitem – an so etwas wie sich selbst erinnern, flüchten durch Wegwendung vom ‹Augenblick›, vom Blick in die Augen der Anderen, in denen sie sich spiegeln und sehen könnten. Sie haben Angst. Nicht vor den anderen Menschen, vor sich selbst.
Wenn Du, die Du all' dies beobachtest, Dich genau in mitten dieser Nicht-Geschehnisse befindest, hast du den Schlüssel zum Jetzt bereits umgedreht, und bist wach, bereit zur Begegnung. All' die starren leeren Gesichter der Menschen verraten ihre unzähligen Gedanken über Gestern und Morgen, über zukünftige Sorgen und vergebliche Hoffnungen, doch keiner schaut ins Jetzt. Warum dies so ist, und warum nur wenigen Menschen dies auffällt, weiß ich nicht. Ich hatte immer vor, mit einem lauten Knall oder einer anderen Aufschreck-Methode – wie Dein Nacken-Pusten – den anderen Menschen die Möglichkeit zu geben, endlich aufzuwachen. Aber welche Überheblichkeit von mir, denn sie suchen sich diese Abwesenheit ja selbst aus, sie gestalten sich ihr «Jetzt» in dieser U-Bahn so belang- und beziehungslos, daß sie von niemandem, auch nicht von sich selbst, behelligt werden können. Und doch: Wie kann ein «Jetzt» jemals anders sein als voller Wunder?
Liebe Grüße von
Ansula

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21. April 2008
Liebe Anna,
und manchmal ist es dennoch auch wundervoll. Dann wird die U-Bahn zu einem Ort des Staunens und zu einem Ort der Intimität. Die schlanken grazilen Finger der Frau vor mir, die ihren Ring dreht. Unreine Haut kann wie ein Sternenhimmel sein. Atme im selben Rhythmus wie der Mann neben mir. Eine dralle Frau im Dirndl mitten in Bochum. Wie anrührend Erschöpfung so dicht neben mir aussehen kann.
So viele Arten sich zu setzen, zu gehen, ein Handy aus der Tasche zu ziehen. Die Menschen wie ein wogendes Blütenmeer. Manchmal wiegt mich die S-Bahn und die vorbeiziehenden Hochspannungsleitungen vereinigen und trennen sich wie im Tanz. Da muss mich wohl jemand in den Nacken gepustet haben...
Und dann wieder die Tage des Abgetrenntseins. Zum Weinen. Zum Ausrasten. Zum Absterben. Zum still werden. Aus der Tiefe durch diese Leblosigkeit hindurchzublicken.
Was sonst können wir tun, außer uns jedem Tag in seiner Klangfarbe hinzugeben? «Ohne Liebe wäre uns das Überleben unmöglich», sagt der Dalai Lama - vielleicht gilt das besonders in der U-Bahn.
Herzliche Grüße
von Devi



Erstellt: 21. November 2000 – letzte Überarbeitung: 28. September 2001
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